- 307 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (306)Nächste Seite (308) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



unverbrauchte Kraft des neuen Ausdrucksmittels zu stark, als daß wir uns hier ernsthafte Sorgen machen müßten. Wenn überhaupt eine Erziehung des ganzen Volkes gelingt, wenn sie überhaupt möglich oder wieder möglich sein wird, so wird der Rundfunk hierbei an der Spitze stehen. Man erwäge doch nur, wie weit die Kreise sind, an die jetzt zum ersten Male ernste Musik herangetragen wird! Wir sind so sehr in dem städtischen Gedanken unserer Kunstpflege befangen, daß wir hierbei gar nicht genügend an das flache Land denken. Nicht das arbeitende Volk der Städte allein ist hier für uns wichtig; vergessen wir nicht, daß der Bauernstand so gut wie keine Musik mehr gehabt hat! Welche Wege pädagogisch zu beschreiten sein werden, um die Möglichkeiten der Rundfunkmusik zur vollen Entfaltung zu bringen, soll hier im einzelnen nicht untersucht werden. Diese Frage dürfte auch heute noch nicht spruchreif sein. Es kommt zunächst auf das Wesentliche an, daß überhaupt ein Instrument für das ganze Volk vorhanden ist. Die wichtigste Folge dieser Tatsache wird sein, daß die übrige Musikpflege den Konkurrenzkampf mit dieser eigentümlichen Seite des Rundfunks wird aufnehmen müssen, daß sie aus der oben dargelegten esoterischen Haltung wird herausschreiten müssen. Diese Erkenntnis bricht sich heute an mancherlei Orten bereits Bahn, nicht zuletzt auch bei denen, die das entscheidende Wort zu sprechen haben werden, bei den Komponisten.


Aber damit ist die Kritik des Rundfunks an unserm Musikleben noch nicht abgeschlossen. Eine Reihe von sehr wesentlichen Gesichtspunkten ist noch zu berücksichtigen. Seien wir uns vor allem klar darüber, daß der Rundfunk anfängt, eine geradezu unheimlich scharfe Auseinandersetzung mit unsern musikpädagogischen Methoden und ihren Schwächen heraufzubeschwören. Unabhängig von gewissen Veränderungen der Tonwerte, die wir noch zu untersuchen haben werden, können wir die Tatsache feststellen, daß im Rundfunk alles, was irgendwie musikalisch unrichtig ist, mit ganz besonderer Unterstreichung reproduziert wird. So hat man zuerst immer von der Eignung besonderer Singstimmen für die Übertragung gesprochen. Der Eingeweihte weiß heute längst, daß hier nur noch einige Spezialfälle gelten können. Gewiß gibt es einzelne, besonders sehr große Stimmen, die bei einer ungeeigneten Aufstellung vor dem Mikrophon, wie man zu sagen pflegt, durchschlagen, ebenso wie es geheimnisvolle Obertonbildungen gibt, die bestimmte, vor allem hohe Töne für die Übertragung als weniger geeignet erscheinen


Erste Seite (1) Vorherige Seite (306)Nächste Seite (308) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 307 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik