- 306 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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vollzogen. Ob nicht vielleicht der soziale Zustand des Mittelalters gerade vom Standpunkt einer Volkskunst aus günstiger war, bleibe dahin gestellt. Seit Beethoven, Mendelssohn, Franz Liszt und andere den Musiker in der bürgerlichen Gesellschaft legitim gemacht hatten, hat das Musikstudium in den Kreisen derer, die früher nie an etwas anderes gedacht hätten, als gute Dilettanten zu werden, einen geradezu erschreckenden Umfang angenommen. Gerade weil das Konzertpublikum zahlenmäßig beschränkt ist, mußte sich sehr bald die Überproduktion im Konzertsaal einstellen, die dazu geführt hat, daß nur noch ein minimaler Prozentsatz von Veranstaltungen tatsächlich öffentliches Interesse beanspruchen kann, während die erdrückende Mehrzahl keine andern Interessenten besitzt als die Konzertierenden selbst. Die weitere Folge hiervon war, daß die wirtschaftliche Basis der Konzerte zusammenbrechen mußte; erst hier und jetzt, im Zeitalter der Freikartenwirtschaft, zeigte sich denn auch die von Anfang an mindestens gefährliche Basis des gesamten Konzertbetriebs und wies sich als deren Verhängnis auf. Man hat dem Radio immer vorgeworfen, durch Überproduktion die Welt mit Musik überschwemmt zu haben und so das Interesse abzustumpfen. Nichts ist ungerechter als dieser Vorwurf; denn die Überproduktion war schon da und hatte zur Vernichtung des Konzertlebens bereits geführt, ehe die erste Welle mit Musik gesandt wurde.

Dieser in falscher demokratischer Breite in eine Art von Inflation zerronnene Musikerstand, der mit seinem Angebot in keinem Verhältnis zur Nachfrage steht, ist heute der eigentliche Boden, auf dem sich das äußere Musikleben abspielt. Man muß diese bittere Wahrheit aussprechen, um mit voller Schärfe zu erkennen, welche Rolle im Gegensatz hierzu bereits heute die Radiomusik spiel. Das Radio ist der erste ernsthafte Versuch, das ganze Volk wieder für die Musik zu erfassen. Vorläufig bleibt es bei dem Versuch; ob es gelingen wird, jemals so weit zu kommen, daß ein Musizieren für alle möglich sein wird, bleibe dahingestellt. Schon wieder, und zwar weil das Radio sich nicht nur teilweise von dem übrigen Leben lösen kann, meldet sich die soziale Schichtung in den Programmen. Bestimmte Kreise haben bestimmte Hörzeiten, die ihnen gehören und in die nichts hineinkommen darf, was jenseits des jeweiligen Fassungsvermögens oder Geschmacksniveaus steht. Aber wir wollen diese Erscheinungen nicht zu ernst werten. Der Organisationsgedanke des Rundfunks ist zu groß und genial, die


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