- 305 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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gehörte; im übrigen wurde sie, das zeigt uns die ganze historische Entwicklung, Privileg bestimmter Gesellschaftsklassen. Wir erinnern hier an die Fürsten und den Adel mit ihren Hofkapellen, an die Bürger mit ihrem Madrigal. Auch die Oper hatte von Anfang an einen esoterischen Charakter und konnte auch dadurch, daß sie in Venedig dem Volk gegeben wurde, diesen Charakter bis heute nicht verlieren, da sie eben doch ein ganz bestimmtes, gewohnheitsmäßiges Publikum, den Kreis der sogenannten Habitués, behielt. Wie oft begegnet man noch heute einem Menschen, der keineswegs den untersten Klassen anzugehören braucht und der noch nie in seinem Leben eine Oper gehört hat! Ein ganz ähnlicher Schritt wie der, den die Oper in Venedig vollzog, kann von der gesamten übrigen Musik wahrgenommen werden. Der reisende Virtuose erfand das Solistenkonzert, die Erweiterung der alten aristokratischen Kammermusiksoireen. Zum modernen Symphoniekonzert führten die sogenannten Akademien. Beide Formen von öffentlicher Musikausübung blieben ein Privileg, wobei man nicht einmal davon sprechen kann, daß dieses ausschließlich den sozial besser Gestellten gehörte. Vielmehr handelt es sich hier um eine Angelegenheit des ausgesprochen städtischen Bürgertums. Auch die Hausmusik griff darüber nur in geringem Umfang hinaus. Was noch weiter entstand, behielt ebenfalls die Signatur des klassenweise Begrenzten. Rein sozial geschichtet sind die Chorvereinigungen, ebenso die verschiedenen Chorverbände. Die Kunstpflege durch ein ganzes Volk ist vielleicht überhaupt nur ein Traum, eine Utopie. Ob selbst die griechische Tragödie wirklich dem ganzen Volk gehört hat, bleibe dahingestellt.


Hier spielen aber noch eine ganze Reihe von Faktoren mit, bei denen die Schuld nicht etwa auf der Seite der Privilegierten liegt. Wir können nicht bestreiten, daß sich die Unhaltbarkeit dieser auf bestimmte Gesellschaftsklassen gestützten Kunstübung eklatant erweisen mußte, als sich nun im Verlauf des 19.Jahrhunderts durch die immer größere Individualisierung und Isolierung des Schaffens der Riß auch zwischen der Musik und ihren bisherigen Konsumenten einstellte. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig und liegen zum großen Teil in gewissen negativen Faktoren der romantischen Periode, zum nicht geringen aber darin, daß das gefährliche, angeblich von Victor Cousin 1818 geprägte Wort “l'art pour l'art” durch die Verbürgerlichung des Musikerstandes einen besonderen Boden erhielt. Diese letztere hat sich entscheidend in der Auswirkung der Französischen Revolution


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