- 304 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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beim Radio wird aber der zeitliche Verlauf selbst reproduziert. Wir haben es also mit einer musikalischen Kinematographie zu tun und stehen hiermit wieder vor dem Filmproblem.


Ehe wir aber auf diese Zusammenhänge näher eingehen, fahren wir in der Betrachtung des historischen Verlaufs fort. Die Radiomusik hat allgemeine Beachtung gefunden, man hat begonnen, sie allerorten ernst zu nehmen. Heute wagt kaum jemand mehr zu behaupten, daß hier Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft ausgeschlossen seien. So laut aber zuerst die Kritik war, die unser Musikleben an dem jüngsten illegitimen Familiengliede übte, der vermeintliche Bastard kehrte sehr bald den Spieß um und begann nun zunächst geradezu vernichtend Kritik an dem bisherigen Musikleben zu üben, und zwar nach verschiedenen Seiten hin.


Sehr bald wurde erkannt, daß beim Rundfunk ein Faktor mitspielte, den die Kunst bisher, wir fragen nicht, ob mit Recht oder Unrecht, verachtete. Wir stehen wiederum vor einem sozialen Problem. Soviel die Musiker davon geredet hatten, sie wollten das Volk beglücken und beschenken, wo ist denn eigentlich das Volk, an das sich die Musik des 19. Jahrhunderts wendet? Und schauen wir weiter zurück! Hat das 18., das 17. Jahrhundert eine Volkskunst besessen? Wie weit liegt die Zeit überhaupt hinter uns, wo die Musik dem Volk als Ganzem und Einheit gehörte? Und nun erscheint eine weitere Frage: Wenn die Musik nur besonderen Schichten des Volks gehörte und heute die schon erwähnte soziale Umschichtung die Existenz dieses alten Publikums zum mindesten fragwürdig erscheinen läßt, hat denn überhaupt unser Konzertleben in der heutigen Form (wir wollen von einer Betrachtung der Oper hier absehen) überhaupt noch Daseinsberechtigung?


Ein kurzer historischer Rückblick mag dazu dienen, den Fragenkomplex zu klären. Eine Musik, die dem ganzen Volke gehörte, gab es, als diese noch rein kultischen Charakter hatte. Daß die Musik kultischen Ursprungs ist, können wir heute kaum noch bezweifeln. Auch als dann Lied und Tanz sich aus diesem Kultischen zu einem Halbkultischen und noch darüber hinaus emanzipierten, blieb sie noch einige Zeit Eigentum des ganzen Volkes. Volkslied und Volkstanz sind aber heute folkloristische Angelegenheiten. Der Beweis, daß sie einer Neubelebung fähig seien, ist bisher noch nicht erbracht. Die Kunstmusik blieb mit dem Volk nur insoweit in Verbindung, als sie der Kirche


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