- 303 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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ausgeschlossen. Schon die Schallplatte ist keine mechanische Musik, wenngleich sie ein Element von dieser enthält, nämlich die Gleichheit Tausender von Platten, die auf Grund einer Aufnahme fabriziert werden. Da aber die Aufnahme selbst persönliche Kunst ist, so erscheint nur das Vervielfältigungssystem mechanisiert. Eine solche Vervielfältigung besteht auch beim Radio, aber sie unterscheidet sich von der des Grammophons dadurch, daß die Reproduktionsmöglichkeit ausgeschaltet ist, daß also für unbegrenzt viele Hörer das Einmalige bestehen bleibt. Erst wenn die Schallplatte, aus geheimnisvollen akustischen Zusammenhängen heraus eine intime Freundin des Radio, sich zu dieser gesellt, geht es einen Schritt weiter auf dem Mechanisierungswege. Aber der Unterschied gegenüber der Walzenmusik bleibt himmelweit. Die Radiomusik\omusik wird wie alle Musik erst dann mechanisiert sein, wenn die Musik überhaupt dieses Schicksal erfahren haben wird; Voraussetzung hierfür ist aber die Mechanisierung des ganzen Menschen. Zugegeben, daß gefährliche Bestrebungen bestehen, die Kultur zu mechanisieren! Radio und Schallplatte können auf diesem Wege dienend mitarbeiten, müssen dies aber keineswegs. Schon die Tatsache, daß die drahtlose Welle je nach dem Willen dessen, der sie sendet, der größten Individualisierung fähig ist, beweist, daß wir hier ein Instrument besitzen, das durchaus geeignet sein kann, persönliche künstlerische Leistungen hervorzubringen.


Das Radio ist also eine Vervielfältigungskunst. Ein bekannter Dichter sagte mir einmal, im Grunde habe die Mechanisierung der Dichtkunst ihren Anfang bereits mit der Erfindung der Buchdruckerkunst oder vielleicht schon der Schrift genommen. Der eigentliche, rein künstlerische Typus sei der singende und rezitierende Barde. Hier liegt der gleiche Denkfehler, dieselbe Verwechslung zwischen Mechanisierung des Wesens und der Vervielfältigung vor.


Wir wollen noch an eine andere vergangene Erscheinung erinnern an die durchaus feindliche Stellung, die alle bildenden Künstler seinerzeit zunächst gegen die Photographie einnahmen.  Denn der Photographie verwandt sind die Musikvervielfältigungen durch Schallplatte und Radio. Die Parallele hinkt aber wie jeder Vergleich. Bei der Photographie wird entweder der Ruhezustand oder eine Etappe des Bewegungsverlaufs festgehalten. Erscheinungen, die an sich zeitlichen Verlauf haben, und wenn auch nur den eines in der Zeit bestehenden Zustandes, werden von der Zeit emanzipiert. Bei der Schallplatte und


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