- 296 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Niveaus verstanden werden. Die Verbindung aller hier ausgesprochenen Forderungen ergibt einen bestimmten Stil, den man als einen primitiven, vorwiegend primitiv-epischen Stil bezeichnen könnte. Darum war es richtig, wenn im einzelnen immer nur Einfachheit, Klarheit, Präzision usw. gefordert wurden, denn das Charakteristische dieses Stils ist: einfache, klare und präzise Faktur. Er ist nicht in dem Sinne charakteristisch, daß ihm Komponenten bestimmter Gefühls- oder Geistesart anhaften müßten; ein romantisches Werk kann in diesen Stil ebenso hineinpassen wie ein unromantisches, ein barockes ebenso wie ein klassisches. Der Komponist kann aus jeder Gesinnung, in jeder Haltung, in jeder Kompositionstechnik schreiben, nur muß er die Geste des künstlerischen Ausdrucks auf das Maß einer gewissen Eindeutigkeit, wie wir sie in primitiven Stilarten finden, zurückdrängen. Was nur in ganz großer Geste darstellbar ist, paßt nicht in den Stil des Rundfunks. Die stark affekterfüllte, rauschende, in der Sprache überreiche Romantik ist völlig ungeeignet im Gegensatz zu jener etwas kühleren, epischen, dabei phantasievollen, die wir in französischen Werken öfter finden als in deutschen. Und ebenso wird ein im allzu reich polyphonen Stil geschriebenes Werk unverständlich sein, während einfache, gut gesetzte Polyphonie mit die stärksten Wirkungen erzielen kann.

So ist der Stil einer Rundfunkmusik in erster Linie durch die Faktur bestimmt. Diese Faktur kann sich so ziemlich jeder Gesinnung anpassen, aber sie wird stärksten Einfluß auf die geistige Haltung ausüben. Die Individualität der schöpferischen Persönlichkeit braucht darunter nie zu leiden. Rundfunkmusik kann höchstpersönliche Kunst sein; von einer Mechanisierung ist keine Rede, wenn der Autor sich den Anforderungen anzupassen versteht und die Wirkungsmöglichkeiten kennt. Auch die Intensität des Ausdrucks kann stark sein. Die Eindringlichkeit der Sprache und die Tiefe der Empfindung ist nicht beschränkt, aber alles, was als Darstellung äußerlich großen Ausmaßes bezeichnet werden muß, ist zu vermeiden; die große Geste, das große Pathos, der große Affekt, der Rausch, prunkvoller Glanz u. a. wirken nicht. Es ist infolgedessen ziemlich selbstverständlich, daß Kammermusik und symphonische Musik kleiner Besetzung der klassischen und frühromantischen Zeit ebenso wie moderne Tanzmusik heute am meisten befriedigt. Und praktisch wird die Entwicklung wohl dahin gehen müssen, daß die Haltung und die Ausmaße der


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