- 292 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (291)Nächste Seite (293) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



Der Vergleich führt zu andern Ergebnissen, wenn man von der geistigen Haltung der Musik ausgeht. Von einem einheitlichen neuen Musikstil kann noch keine Rede sein. Die verschiedensten Individualitäten stehen sich ebenso schroff gegenüber wie die Meinungen der Hörerkreise. Aber selbst wenn man die neue Musik beachtet, die in bezug auf ihre Kompositionstechnik den Erfordernissen des Rundfunks am nächsten steht, wird sich ein starker Gegensatz hinsichtlich der geistigen Haltung erweisen. Denn diese neue Musik hat zum großen Teil heute noch den Zug, sich ausschließlich an die zu wenden, denen Musik eine eigene Welt mit eigenen Erkenntnissen ist, also weit mehr als bloßes Empfinden für musikalischen Ausdruck. Diese Musik hat noch das Wesen und die Ziele einer tiefen Kunst, und man hat es ihr oft vorgeworfen, daß sie sich nur an kleine Kreise der Hörer wendet. Ob aber eine solche Kunst für den Rundfunk in Frage kommt, ist sehr zweifelhaft.


V


Seit 1923 hören wir Musik im Rundfunk. Seit der gleichen Zeit müssen wir feststellen, daß unsere Konzertkultur und der Konzertbetrieb in altgewohnter Weise kaum aufrechtzuerhalten sein wird. Wir erleben, daß der Musikkonsum im ganzen viel größer ist, als er je war, und daß gleichzeitig die Form, in der Musik gehört wird, sich völlig verändert. Die Konzerte werden heute erheblich weniger besucht als früher. Rundfunk, Schallplatten und auch schon der Tonlilm haben ein ungeheures Publikum. Der Schaffende wird zu einer Entscheidung gedrängt, für wen und was er komponieren soll. Das ist durchaus nicht nur eine praktische Entscheidung, sie berührt im Gegenteil die Voraussetzungen des Schaffens. Jeder Komponist muß mit den realen Umständen rechnen, innerhalb derer sich die Interpretation seines Werkes, die Realisierung seiner Idee, vollzieht. Infolgedessen hat in der Musik die Frage, ob der Komponist überhaupt für jemanden, oder ob er nur aus sich selbst heraus, ohne Berücksichtigung der Ansprüche von Hörern und Umständen schaffen soll, stets eine wichtige Rolle gespielt. Ihre praktische Beantwortung, daß der Hörer dem Autor entgegenzukommen hat oder umgekehrt der Autor dem Hörer, ist charakteristisch für Zeiten und Zeitstil. In unsern Tagen ist die erste


Erste Seite (1) Vorherige Seite (291)Nächste Seite (293) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 292 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik