- 290 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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aber nie außer acht lassen, daß das Urteil der Laien oft viel maßgebender ist als das mancher Fachmusiker, die bei der Wiedergabe ihnen bekannter Stücke mehr mithören als der unbefangene Nichtmusiker. Für den Nichtmusiker ist die geringste Unklarheit unverständlich, der Musiker erklärt sie sich vielleicht. Alle Werke, deren Technik auf tönende oder gar rauschende Effekte berechnet ist, die zu voll gesetzt oder polyphon zu kompliziert sind, bleiben ebenso wie die Werke, deren geistige Haltung unentschieden oder deren Affektgehalt ein Streben, aber nicht eine Erfülltheit ist, in der verständlichen Wirkung hinter denen zurück, die durch eindeutige FormuIierungen fesseln – eindeutig in Sprache, Geist und Empfindung. In Klarheit, Eindeutigkeit und Präzision kann der Komponist an und für sich so ziemlich jede Wirkung erreichen, die er zu erreichen wünscht. Das ist für ihn technisch nur insofern neu, als er gewisse Darstellungsbedingungen in etwas übertriebener Art berücksichtigen muß. Er muß vor allen Dingen rücksichtslos konsequent sein: er darf nicht II.Violinen in ein Orchester schreiben, wenn sie tatsächlich überflüssig sind – muß die zum Schema gewordene Verdoppelung der Holzblasinstrumente nachprüfen und unter allen Umständen mit den sparsamsten Mitteln auskommen, wie er auch alles so einfach auszudrücken hat, wie es nur irgend möglich ist. Viele Leute meinen, der Komponist dürfe sich nicht durch Einschränkungen behindern lassen. Eine Behinderung, die so weit geht, daß sie dem Komponisten notwendige Wirkungen unmöglich macht, verlangt niemand. Aber eine Einschränkung, durch die sich der Komponist überhaupt erst an die gegebenen Verhältnisse anpaßt, ja vielleicht sich erst die rechten Wirkungen garantiert, ist unerläßlich. Dazu sind die Komponisten ja auch in einem Maße erzogen, wie es von Nichtmusikern fast nie erkannt wird. Der Komponist muß dem Wesen und der Technik eines jeden Instrumentes Rechnung tragen; er kann nichts schreiben, was praktisch nicht ausführbar ist oder einem Instrument nicht liegt. Die Behinderung, sich in oben erklärtem Sinne Beschränkung aufzuerlegen, muß für ihn selbstverständlich sein.


Die Beschränkung der Mittel im Sinne der Klarheit, Eindeutigkeit und Präzision ist ihm aber noch aus einem ganz andern Grunde naheliegend. Sie liegt in der Entwicklung unseres musikalischen Stils. Gewiß werden auch heute noch Werke für ganz große Orchesterbesetzung großen symphonischen oder dramatischen Stils geschrieben. Aber das große Orchester als Selbstzweck existiert nicht mehr, die Zuwendung


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