- 288 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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wurde schon in anderm Zusammenhange gesprochen. Hier muß hinzugefügt werden, wie solche Einstellung die Wirkungsmöglichkeit des Werkes beschränken oder erweitern kann. Es ist kein Zweifel, daß bei völliger Konzentration eine Lautsprecherwiedergabe von reiner Musik auf manchen Menschen eine tiefe Wirkung ausüben kann. Sowie diese Konzentration aber nicht ganz eindeutig ist, entstehen neue Verhältnisse. An Stelle des optischen Eindrucks beim Anhören der originalen, wirklichen Interpretation kommen Phantasievorstellungen. Am stärksten natürlich bei Opernmusik, und da erweist sich, daß Musik plus Wirklichkeit etwas ganz anderes ist als Musik plus Phantasie. Kommen dazu noch intellektuelle Momente, so haben wir eine ganz neue Einstellung. Auch hier hängt alles vom Verstehenkönnen ab; dann wird der “Lindberghflug”, der auf einer Bühne nicht darstellbar ist und im Film nie so eindrucksvoll gezeigt wie in der Phantasie vorgestellt werden kann, ohne weiteres mitzuerleben sein. Aber alle überbetonten Ichgefühle können leicht lächerlich werden, allzu subjektive Ausdrucksmusik wird der spielerischen Phantasie keine Anhaltspunkte geben. Musikalischer Verlauf in prägnanter Diktion fesselt mehr als eine gleichsam stehende Situationsmusik. Alles, was erzählt, deduziert oder aufgebaut wird, fesselt; was auf eine einzelne Situation, auf eine Haltung hinweist, wirkt nicht. Ferner ist die Eindringlichkeit des Sachlichen erforderlich. Autoritätsempfinden vor dem Lautsprecher besteht nicht. Man ist auf die Leistung eines großen Dirigenten gespannt; aber man begrüßt ihn nicht, man sieht nicht seine Gesten, man ist viel kritischer. So ist im Lautsprecher unendlich viel mehr möglich darzustellen als in Wirklichkeit, solange man sich neben Musikalität und Intellekt an die Phantasie des Hörers wendet, und unendlich viel weniger, sobald man von ihm das verlangt, was bei Musikdarstellungen aus der Wirklichkeit der Darbietung erwachsen ist, seien es seelische, gesellschaftliche, akustische oder andere Momente. Das heißt, ein Hörer, der die Matthäus-Passion am Lautsprecher hört, kann Christus am Kreuz sehen, aber er kann nicht die Stimmung des Konzertsaals miterleben – dazu wäre der tatsächliche seelische Kontakt mit andern, miterlebenden Menschen nötig. Der Hörer kann aber auch nicht den seelenvollen Augenaufschlag einer Sängerin sehen, und ihr Liebesleid, das sie im Konzert persönlich darstellt, bleibt gleichgültig; allein die Gestaltung und der Ausdruck des Liedes, das Lied selbst, kann Teilnahme hervorrufen. Stimmung in feiner Lyrik


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