- 287 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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gleich sein: man wird dann oft genug einen starken Schall ohne charakteristischen Ausdruck vernehmen. Es besteht aber kein Zweifel, daß in richtigem Satz alles charakteristisch gegeben werden kann. Auffallend ist, wie wichtig für die Wirkung eines Themas oder einer Melodie ihre Bewegung inner- oder außerhalb eines mitklingenden Akkordes ist, ebenso wie Intervalle, die in zu nahem Obertonverhältnis stehen, unplastisch werden. Baßquinten, von zwei gleichen Instrumenten gespielt, klingen fast immer wie ein Ton. Für die Wirkung der Diktion ist ferner äußerst wichtig, ob zusammengehörige Töne oder Klänge von den gleichen oder verschiedenen Instrumenten vorgetragen werden. Es besteht die Möglichkeit, daß zu farbige Instrumentation oder eine im Vortrag unter mehrere Instrumente aufgeteilte Phrase ihre Intervallcharakteristik verliert. Ein tiefer Flötenton kann unter Umständen scheinbar tiefer klingen als ein etwas tiefer stehender Klarinettenton; denn der Hell-Dunkel-Kontrast der Farbe bleibt am meisten bestehen. So kann der dunkle Ton eines Instrumentes tiefer klingen als der hellere eines andern und damit das Intervallerkennen erschwert werden. Es mag sich hier und auch bei früher Gesagtem durchaus um Erscheinungen handeln, die auch bei originaler Musikdarstellung zu beobachten sind; aber durch die Übertragung werden sie außerordentlich hervorgehoben.


Das dynamische Moment — dynamisch im weitesten Sinne des Wortes zu gefaßt — kann durch die Übertragung sehr beeinflußt werden. Spannungen und Steigerungen, ja die Tempi wirken anders aus dem Lautsprecher als original. Motorisches kann seine Zielstrebigkeit völlig einbüßen, Ruhe kann zu intensiv wirken und Formen zerreißen; Pausen, Fermaten bringen andere Effekte als beim direkten Hören. Dazu kommt, daß für die Dynamik technische Grenzen gesetzt sind; man kann äußerste pp oder äußerste ff nicht ohne weiteres vor dem Mikrophon spielen, und die Hilfe des Technikers unterstützt meist nicht den vom Musiker gewünschten Effekt. Da muß die dynamische Geste eingeschränkt werden, große Steigerungen und Spannungen darf der Orchesterdirigent nicht in einer Linie formen. Die Wiedergabe klassischer Musik ist also ungleich einfacher als die romantischer, wenn sie auf äußerste Kontraste nicht verzichten will.


Zu diesen objektiven Veränderungen kommen nun die subjektiv bedingten Veränderungen hinzu, die aus der Einstellung des Hörers vor dem Lautsprecher herrühren. Über die äußere Form dieser Einstellung


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