- 275 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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finden. Doch bleibt die Tatsache bestehen, daß eine ganze Reihe von Menschen, die vorher vielleicht niemals selbständig melodisch gedacht hatten, hierzu veranlaßt wurden und von Aufgabe zu Aufgabe in diese Fragen mehr hineinwuchsen. Es ist nur notwendig, die Grenzen der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu beobachten und sorgsam innezuhalten.


Ich gebe statt einer eingehenden Beurteilung im folgenden noch einige ausgewählte Proben aus den Lösungen wieder. Ich habe sie alle gesammelt, und sie sind mir wertvolles Material zur Technik und Psychologie des musikalischen Gestaltungsvorgangs. Sie lassen alle Hemmungen und Widerstände erkennen, die den nichtschöpferischen Menschen vom schaffenden trennen. Aber sie zeigen an einzelnen Stellen in erstaunlichem Grade eine intuitive Erfühlung des Organismus und des Formalen. Dies ist die Lage, aus der in früheren Zeiten unserer Kultur vielleicht das Volkslied entstand.


Die folgenden drei Beispiele von Hörereinsendungen beziehen sich sämtlich auf eine Aufgabe: einen kleinen, nur aus sechs Tönen bestehenden Vordersatz selbständig fortzusetzen, so daß diese Fortsetzung nicht nur einen Nachsatz gibt, sondern darüber hinaus aus der ersten Periode eine zweite entwickelt und das Ganze zu einer selbständigen kleinen Form abrundet. Es ist vielleicht kein Zufall, daß dieser Vordersatz:



der primitivste war, der im Laufe der praktischen Aufgaben jemals auftrat, und daß er nicht von mir, sondern von einem Teilnehmer vorgeschlagen wurde. Vielleicht entstand dadurch im Hörer das Gefühl, daß etwas so Einfaches auch ihm zugänglich sei. Die Beteiligung an dieser Aufgabe war besonders stark.


Die drei Lösungen, die ich hier wiedergebe, haben eines gemeinsam: sie sind typisch für die Art, wie ein musikalischer, aber nicht von sich aus schöpferischer Mensch in Tönen denkt. Die Einsenderin des ersten Beispiels steht der Musik nahe, hat aber nie Melodien aufgeschrieben oder sich über das Instrument hinaus mit Musik beschäftigt. Das Formbild ihrer Lösung ist von überraschender Selbständigkeit: der Nachsatz (a) bleibt offen, der neue Vordersatz (b) setzt mit bedeutend größerer Kraft an und schwingt in weitem Bogen (c) aus. So entsteht eine


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