- 270 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Möglichkeit ist die Lösung der gestellten, praktischen Aufgaben. Ich will hier zunächst auf die erste Form der Mitarbeit eingehen.


Wie schon aus einigen zitierten Briefstellen sichtbar wurde, liegt in einem gewissen Hörertypus ein starkes Bedürfnis vor, zu den behandelten Fragen Stellung zu nehmen. Das äußert sich in einer nachträglichen Beteiligung an der Diskussion, in ergänzenden Fragen eigenen Beobachtungen oder kritischen Anmerkungen zur letzten Wochenstunde oder in selbständigen Analysen. Die Zuschriften bieten Belege für alle diese Möglichkeiten.


Manchmal beziehen sich solche Äußerungen auf Einzelheiten und zeugen hier, auch wenn sie zu sachlich nicht immer unmittelbar richtigen Ergebnissen führen, von einer eigenen, nicht nur nackdenklichen, sondern aktiven Stellungnahme. “Falls Sie am kommenden Mittwoch Zeit übrig haben”, schreibt ein Hörer, “wollen Sie doch bitte noch einmal auf den zweiten Teil von Bachs G-Dur-Menuett eingehen. Die ersten fünf Takte des zweiten Teils schwingen aus zur zweiten Dominante. Im sechsten Takt haben wir in der Melodie ein G. Wenn ich dieses G als Septime auffasse, käme in dem Baß nicht H sondern A... Durch die gewünschte Erörterung wird mir wohl klar werden, weshalb Bach doch H in den Baß setzt.”


Selbständige Analysen der Hörer erscheinen unter mehreren Perspektiven. Von mir selbst angeregt wurden sie nur ein einziges Mal, um mich zu vergewissern, ob die gemeinsamen Analysen richtig verstanden wurden. Darüber hinaus aber wurde mir, besonders in der ersten Zeit, eine Reihe selbständiger Analysen gebracht, teilweise aus eigenen Zweifeln heraus, teils mit der Bitte um Bestätigung. “Um Ihnen Gelegenheit zu geben, nachzuprüfen, wie Ihre Äußerungen verstanden wurden”, schreibt ein Lehrer, “teile ich Ihnen mit, wie ich Ihre letzten Ausführungen verstanden habe.” Es handelt sich um die Melodie des alten, nach 1500 aufgezeichneten Volksliedes “Es gingen zwei Gespielen gut”. Von der folgenden, ausführlichen Analyse, welche die von uns gebrauchten Begriffe selbständig übernimmt und den melodischen Verlauf des Liedes exakt nachzeichnet, geben schon die ersten Zeilen ein Bild: “Wie wir beim volltaktigen Beginn einer Melodie im Grundton eine gestaute Kraft feststellten, so zeigt sich bei diesem Lied im Anfang eine Stauung im ganzen Quintenraum d—a. Beim Fortgang schwingt es dann in den fallenden Quintraum c—f über. Diese beiden Akkorde aber verhalten sich wie zwei komplementäre Farben.” Hierzu


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