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Ernst Cassirer: Form und Technik


Formgebung einzudringen, ein Mißverständnis abzuwehren. Die “Form” der Welt wird vom Menschen weder im Denken noch im Tun, weder im Sprechen noch im Wirken einfach empfangen und hingenommen, sondern sie muß von ihm “gebildet” werden. Denken und Tun sind insofern ursprünglich geeint, als sie beide aus dieser gemeinsamen Wurzel des bildenden Gestaltens stammen und sich aus ihr erst allmählich entfalten und abzweigen. Wilhelm von Humboldt 1) hat dieses Grundverhältnis an der Sprache aufgewiesen: er hat gezeigt, wie der Akt des Sprechens niemals ein bloßes Empfangen der Objekte, eine Aufnahme der bestehenden Gegenstandsform in das Ich bedeutet, sondern wie er einen echten Akt der Weltschöpfung, der Erhebung der Welt zur Form in sich schließt. Die Vorstellung, daß die verschiedenen Sprachen nur dieselbe Masse der unabhängig von ihnen vorhandenen Gegenstände und Begriffe bezeichnen, gilt Humboldt als die dem Sprachstudium eigentlich verderbliche. Sie verdeckt das, was ihren eigentlichen Sinn und Wert ausmacht; sie trübt den Blick für den schöpferischen Anteil, den die Sprache an der Herausstellung, an der Gewinnung und Sicherung des anschaulichen Weltbildes hat. Die Verschiedenheit der Sprachen ist nicht eine solche von Schällen und Zeichen, sondern “eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst”. Was hier vom Gebrauch der Sprache gesagt ist, das gilt, recht verstanden, auch von jedem noch so elementaren und “primitiven” Werkzeuggebrauch. Das Entscheidende liegt auch hier niemals in den materiellen Gütern, die durch ihn gewonnen werden — in der quantitativen Ausdehnung des Machtbereichs, durch die nach und nach ein Teil der äußeren Wirklichkeit nach dem andern dem Willen des Menschen unterworfen wird — durch die der Wille, der anfangs auf den engen Umkreis des menschlichen Leibes, auf die Bewegung der eigenen Gliedmaßen beschränkt schien, allmählich alle räumlichen und zeitlichen Schranken durchbricht und sprengt. Diese Überwindung wäre letzten Endes dennoch ohne Frucht, wenn sich in ihr dem Geiste immer nur neuer Weltstoff erschlösse und entgegendrängte. Der eigentliche, der tiefere Ertrag liegt auch hier im Gewinn der “Form”: in der Tatsache, daß die Ausdehnung des Wirkens zugleich seinen qualitativen Sinn verändert, und daß sie damit die Möglichkeit eines neuen Welt-Aspekts erschafft.

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1) W.v.Humboldt, Werke (Akademie-Ausgabe) Bd. VII, Teil I,S.119 usw., näheres in m. Philos. d. symbolischen Formen, Bd. I, Die Sprache, Berlin I923.


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