- 262 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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acht Takte zu schreiben (einstimmig), welche rhythmisch und formal von Bach übernommen werden, in der Melodik aber und dadurch auch in der Harmonik freie Erfindung sind. Der Kompositions- oder Theorieschüler wird acht oder sechzehn Takte schreiben, ohne daß er dafür eines Anhaltspunktes bedarf (daß auch für ihn diese Art der Verwandlung eines künstlerischen Vorbilds von größtem Nutzen sein kann, sei nur nebenbei angemerkt). Der durchschnittliche Rundfunkhörer aber würde an die Aufgabe gar nicht erst herangehen, in dem Gefühl, ihr ja doch nicht gewachsen zu sein. In unserm Falle aber tut er mit. Er empfindet den Zwang als Wohltat, die gegebenen Elemente des Kunstwerks als Anregung, aber nicht als Fesselung.


Derselbe Fall des G-Dur-Menuetts führt uns noch in eine etwas andere Richtung. Wir haben über die Melodik des ersten Taktes gesprochen und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß im Gegensatz zu einer wachsenden Melodik eine schwingende nicht an die Richtung gebunden ist. Sie kann ebensogut fallen wie steigen. Aus unserm Gespräch erwächst uns die Anregung, Bachs Anfang von derselben Quinthöhe aus umzukehren; dabei ergibt sich für den zweiten Takt eine etwas andere Lage, vor allem harmonisch der neue Atemzug der Dominante statt des Verharrens auf der Tonika. Unsere Umkehrung Bachs gewinnt also folgendes Aussehen:



Wir geben auch diesen Anfang nicht mehr mit der engeren Forderung, durch eine zweitaktige Fortsetzung das Verhältnis von Vorder- und Nachsatz zu klären, sondern stellen die Aufgabe so, daß dieser Anfang auf acht Takte zu erweitern ist; eine weitere rhythmische Anlehnung an Bach wird nicht mehr gefordert. Auch hier mag eine Probe aus den eingegangenen Lösungen zeigen, wie das eigene Formgefühl eines durchschnittlich begabten Hörers sich an der eingehenden Beschäftigung mit dem Kunstwerk zu entwickeln vermag:



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