- 261 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Anhaltspunkt aus geschieht. Der Hörer, welcher dem Gedanken eigenen musikalischen Arbeitens fremd und daher ablehnend gegenübersteht, geht viel leichter an eine solche Aufgabe heran, wenn man ihm nicht nur, wie im letzten Beispiel, Worte, sondern wenn man ihm auch Töne gibt, von denen aus er weiter denken kann. Eine natürliche Form hierfür ist die Fortsetzung eines gegebenen Anfangs. Diese Fragestellung ergibt sich meist unter dem Gesichtspunkt der Form. Der gegebene Vordersatz und der selbst gebildete Nachsatz verbinden sich zu einer Periode. Aus der Vergleichung vieler und gegensätzlicher Fortsetzungen eines gegebenen Anfangs ergeben sich die Formbeziehungen der Periode in ihrer typischen Gestalt.


Hier soll noch von einer andern Form musikalischer Arbeit nach einem gegebenen Vorbild die Rede sein, die in besonders enge Beziehung zur analytischen Arbeit gerückt werden kann. Sie beruht auf einer freien Anlehnung an das Kunstwerk oder an einen kleinen Ausschnitt aus ihm und ist eine Art von Parallele für das, was die Maler durch das Kopieren von Meisterwerken lernen: nicht selbständig gestalten, sondern ein Kunstwerk so vollendet wie möglich nachahmen und seine Gesetzlichkeiten auf diesem Wege aktiver und unmittelbarer zu erleben als durch die Analyse.


Die Musik scheint hierfür auf den ersten Blick wenig Möglichkeiten zu bieten. Der Begriff des Kopierens gewinnt bei ihr ein anderes Aussehen. Die Nachahmung erstreckt sich nicht auf die ganze Faktur des Kunstwerks, sondern nur auf Teile von ihm, während andere Teile selbständig zu ergänzen sind. Es ist also nicht so sehr Kopie als Verwandlung, ein schöpferisches Arbeiten mit der Musik, das durch das Kunstwerk selbst geleitet, aber nicht gehemmt wird.


Ich möchte auch hierfür ein Beispiel geben. Wir sprechen über das kleine zweiteilige G-Dur-Menuett von Bach aus dem Klavierbüchlein für Anna Magdalene:



Die Analyse ergibt das Übergewicht des Rhythmus, das aus dem Tänzerischen begründet wird, eine gewisse Passivität der Melodik im einzelnen, aber eine klare, zur Polyphonie durchgebaute melodische Grundlinie. Wir kommen zu der Aufgabe, den sehr charakteristischen Rhythmus und die Form zu kopieren; es sind also acht oder zweimal


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