- 257 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (256)Nächste Seite (258) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



Der Aufbau eines solchen Lehrgangs wirft eine Reihe grundlegender Fragen auf. Die herrschenden Lehrmethoden erweisen sich einem Hörerkreis gegenüber, wie man ihn beim Rundfunk voraussetzen muß, als völlig ungeeignet. Auch hier müßte viel weiter “unten” begonnen werden, an einer Stelle, an der Musik in der Tat noch ein allen gemeinsamer Besitz ist.


Wichtig scheint mir die Voraussetzung: alle harmonischen Fragen zunächst völlig auszuschalten. Der durchschnittlich musikalische Mensch hört melodisch. Alle melodischen und rhythmischen Erscheinungen sind ihm bis zu einem gewissen Grade selbstverständlich, ebenso wie umgekehrt alles Klangliche und Harmonische unzugänglich bleibt. Es bedarf erst einer starken Willensanspannung des Hörers, um an den harmonischen Funktionsbegriff überhaupt heranzukommen. Nichts wäre also unfruchtbarer, als eine Musiklehre im Rundfunk auf der Grundlage der geläufigen Harmonielehre aufzubauen.


Wir beginnen also mit der Melodik, unter Ausschaltung aller andern Elemente. Wir begrenzen den Raum, in dem eine Melodie sich entfaltet. Ausgangspunkt sind die kleinsten melodischen Vorgänge innerhalb einer Sekund- oder Terzspannung. Die ersten eigenen Versuche werden im Quartraum gemacht. Alle harmonischen Beziehungen werden absichtlich ausgeschaltet. Daher folgt auf den Quartraum c—f sehr bald das Arbeiten in andern Räumen, in denen durch die veränderte Lage der Halbtöne die Begriffe Grundton und Zielton aufgehoben werden. Die Vorstellung der melodischen Vorgänge wird von jedem Instrument abgelöst; die Arbeiten werden auch vor dem Mikrophon nach Möglichkeit gesungen und nicht gespielt. Die Notierung geschieht ohne Takt; der Begriff des Metrums kommt nicht auf.


Solche Versuche werden eine Zeitlang gemacht. Allmählich vergrößert sich der Umfang der Melodie ebenso wie ihr Raum. Der Quartraum wird zum Quintraum gesteigert, darüber hinaus zur Sexte und Oktave. Im Laufe dieser Arbeiten löst sich der Formbegriff heraus, nicht im Sinne einer äußerlich sichtbaren Gliederung, sondern im Sinne einer inneren Architektonik. Die steigenden und fallenden Intervalle der Melodie treten in ein bestimmtes Verhältnis zueinander, das um so deutlicher wird, je mehr man sichtbare Symmetrie vermeidet. Nun setzt ein neuer und wesentlicher Teil der gemeinsamen Arbeit an. Die Atmung der melodischen Linie wird erkennbar; Zweischlag und Dreischlag als Grundlage für Metrum und Rhythmus lösen sich heraus,


Erste Seite (1) Vorherige Seite (256)Nächste Seite (258) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 257 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik