- 254 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Nenner gebracht. Das Zusammenwirken von Melodik, Harmonik und Rhythmik erscheint als unlösbare Einheit. Die gemeinsam unter ihnen wirkende Grundkraft wird erkennbar und läßt sich als Gesetz, zunächst als Erfahrung, formulieren. Zu diesen drei Elementen tritt als viertes und gleichberechtigtes die Form. Von dieser Perspektive aus erscheint es als selbstverständlich, die Form nicht als starre Gegebenheit, sondern als lebendiges Wachstum, als ein Fließendes zu erkennen, das allenfalls die Verallgemeinerung zum Typus, nie aber zum Schema duldet.


Diese Andeutungen werden genügen um die Basis einer solchen Arbeit zu kennzeichnen. Musiklehre oder Musikerkenntnis hat mit Theorie nichts zu tun, sondern stellt sich dar als eine Summe von Erlebnissen und Erfahrungen, die an einem allgemein zugänglichen Objekt, wie dem Volkslied, abgeleitet werden. Dieses bleibt als Stoff für die Weiterarbeit einige Zeit bestehen. Die Beispiele folgen einander so, daß sich aus jedem neue Gesichtspunkte ergeben. Das ist verhältnismäßig leicht zu verwirklichen, denn gerade das Volkslied in seiner objektiven und plastischen Eindeutigkeit bietet Anknüpfungspunkte für alle wesentlichen Grundgesetze der Musik. So führt zum Beispiel die Analyse von “O Straßburg” zur Entfaltung einer motivischen Keimzelle; das Lied “Schier dreißig Jahre bist du alt” zu der Erkenntnis, daß die melodische Entfaltung von der Eigenkraft des Rhythmus überschnitten wird, “Ich hatt' einen Kameraden” zur dreiteiligen synthetischen Form, “Kein Feuer, keine Kohle” zur allmählichen Auflösung der melodischen Konturen bis zur freien, dem Worte entgleitenden melismatischen Linie.


Das Volkslied ist, wie vielleicht schon aus diesen Beispielen hervorgeht, die natürliche Grundlage jeder analytischen Musiklehre. Sie muß es um so mehr sein, wenn die Arbeit sich nicht an einen kleinen Kreis geistig nivellierter Menschen wendet, wie dies sonst bei jeder Art von Unterricht der Fall ist, sondern beansprucht, Hörer aus allen Schichten und Kreisen zu erfassen. Es hat sich gezeigt, daß diese Anknüpfung von den Hörern durchaus bejaht wurde. Über die mittelbare Bedeutung des Volkslieds für die Erkenntnis musikalischer Grundgesetze hinaus wird es von den Hörern als Eigenwert aufgefaßt. Lehrer, Volksliedpfleger, Chorleiter nehmen an der Arbeit teil. Zahlreiche Varianten gehen ein. Quellen für handschriftliche Sammlungen oder fliegende Blätter werden angegeben.


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