- 253 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Teil der Arbeit analytischer Natur ist. Ihr Ziel ist das gesteigerte Erlebnis des Kunstwerks, ihr Weg die Erkenntnis der Kräfte und Gesetze des musikalischen Organismus. Der Unterschied einer solchen Musiklehre gegen alle vorher erwähnten einführenden Vorträge liegt darin, daß im Mittelpunkt hier nicht das einzelne Werk oder eine Werkgruppe stehen, sondern die Musik als Ganzes, und daß die Wahl der Beispiele sich erst aus der allgemeinen Fragestellung ergibt.


Wir halten daran fest, daß Reden über Musik nur einen Sinn hat, wenn es nicht nur ein künstlerisches Erlebnis vorbereitet, sondern wenn es selbst auch aus einem musikalischen Eindruck abgeleitet wird. Es steht also von Anfang an der lebendige Eindruck von Musik im Mittelpunkt. Wir suchen eine Art von Musik, welche die Kraft des Organismus in kleinstem Raume erkennen, sich in einer kurzen Zeit umspannen läßt und im weitesten Sinne als Allgemeingut betrachtet werden kann. Das ist das Volkslied. Mit ihm werden wir zu beginnen, an ihm alle elementaren Gesetze der Musik abzuleiten haben, in ihm die Basis finden, die uns ohne Schwierigkeiten auch in die größeren Formen der Musik hineinführt. Die Anlage einer solchen Arbeitsgemeinschaft, die etwa unter den Schlagworten “Musikerleben” oder “Musikverstehen” angekündigt werden kann, soll hier kurz dargelegt werden. Grundlage für die folgenden Mitteilungen, ebenso für die Berichte über die Zusammensetzung und Mitarbeit der Hörer bilden die Arbeitsgemeinschaften, die ich während zweieinhalb Jahren an der “Deutschen Welle” durchzuführen Gelegenheit hatte.


Der Anfang kann nicht weit genug zurückgenommen werden. Das Kinderlied, das Spiellied, die primitive Singzeile geben bereits eine Fülle von Erkenntnissen. Der Vergleich einfachster Melodien, etwa “Alle meine Enten” mit “Backe, backe Kuchen” zeigt in vollendeter Plastik den Gegensatz einer schreitenden und einer schwingenden, einer zielstrebigen und einer unendlichen, einer diatonischen und einer pentatonischen Melodik. Über den Text hinaus wird das Eigenleben des Rhythmus erkennbar. Schon in dem ersten Beispiel des diatonischen Liedes erscheint der Gegensatz zwischen der durchstoßenden Bewegung des Anstiegs und den geordneten Motivgruppen des Abstiegs fruchtbar. Ebenso unmittelbare Anknüpfungspunkte ergeben sich für die Harmonik. Die Tonika wird von der melodischen Basis aus entwickelt, die Unterdominante erscheint als Abstoßung, die Dominante als Anziehung. Die Logik der harmonischen Funktionen wird so auf einen allgemeinen


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