- 22 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


wenn man glaubt, die Sinnfrage mit der Wertfrage gleichsetzen und sie von ihr aus zur eigentlichen Lösung bringen zu können. In dieser Gleichsetzung von “Sinn” und “Wert” hat bereits eine Verschiebung des Problems stattgefunden. Dieser logische Mangel pflegt freilich um so eher unbemerkt zu bleiben, als er keineswegs allein dem Problem, das hier in Frage steht, angehört, sondern sich vielmehr auf die ganze Weite der “Philosophie der Kultur” und auf die Gesamtheit ihrer Aufgaben erstreckt. So oft bisher auch in der Geschichte des Denkens die “transzendentale” Frage nach der “Möglichkeit” der Kultur, nach ihren Bedingungen und Prinzipien gestellt worden ist, so selten ist sie in wirklicher Schärfe nach ihrem reinen An-Sich festgehalten und durchgeführt worden. Immer wieder glitt sie in zwei verschiedene Richtungen ab: der Frage nach dem Kulturgehalt schob sich die nach ihrer Leistung unter. Das Maß dieser Leistung mochte man ganz verschiedenen geistigen Dimensionen entnehmen; man mochte es noch so hoch oder noch so niedrig ansetzen — dies änderte jetzt nichts mehr an dem Fehlgriff, der schon im ersten Ansatz des Problems begangen war. Deutlich tritt dieser Sachverhalt bereits bei dem ersten eigentlichen “Kritiker” der modernen Kultur, bei Rousseau, hervor. Als Rousseau das Ganze der intellektuellen und der geistigen Bildung seiner Zeit vor die eigentliche Gewissens- und Schicksalsfrage stellte — da war ihm die Fassung dieser Frage durch einen äußeren Anlaß, durch die Preisaufgabe der Akademie von Dijon vom Jahre 1750 vorgeschrieben. Die Frage lautete, ob und wieviel die Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften zur ethischen Vervollkommnung der Menschheit beigetragen habe (si l´Établissement des Sciences et des Arts à contribué ˆ épurer les moeurs). Und ihr gesellt sich, gemäß der Grundrichtung der Ethik des Aufklärungszeitalters, im Geiste Rousseaus alsbald die andere nach dem Lustertrag — nach dem Maße der “Glückseligkeit”, die die Menschheit durch ihren Übergang aus dem Stande der “Natur” in den der Kultur gewonnen hat. “Glückseligkeit” und “Vollkommenheit”. das sind somit die beiden Dimensionen, innerhalb deren er die Antwort auf sein Problem sucht — und sie liefern ihm die Maßstäbe, denen er es unterwirft. Erst die Philosophie des deutschen Idealismus hat hier eine entscheidende Wendung gebracht; erst sie hat die “Wesensfrage” in wirklicher Schärfe und Reinheit gestellt und sie von dem Beiwerk der Glücksfrage, wie der Frage nach der moralischen “Vervollkommnung” gelöst.


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