- 199 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Die expressionistische Bühne, die Stilbühne und daneben viele Mischformen tobten sich aus und gaben der Bühne zuerst die Unruhe und dann die gemachte Ruhe. Über dieses Stadium sind wir zum größten Teil hinausgekommen. Die absolute Selbstherrlichkeit des Malers wurde zunächst durch die des Regisseurs abgelöst. Inzwischen beginnen beide, sich anzugleichen und einzuordnen.


Der wesentlichste Gewinn dieser Jahre ist das Gefühl für die Bühne als Raum. Die Zeit der Dekoration schuf nur die Umgebung für die Darsteller. Sie umrahmte die Bühne, ohne sie zu gestalten. Sie ließ den Bühnenboden ungenutzt, sie bezog den Darsteller nicht in den Raum ein und verwandelte ihn nicht individuell für die Voraussetzungen des jeweiligen Dramas. Die Gesten und Gänge des Darstellers flatterten beziehungslos umher. Es gab kein Maß und kein Ziel.


Vom Regisseur her haben Tairoff und Jeßner bei uns die ersten und sinnfälligsten Gestaltungen der Bühne als Raum gezeigt. (Meyerhold und Granowsky sind erst jetzt zu uns gekommen.) Tairoff löste den Bühnenboden auf durch jene phantastische Gliederung in Schrägen, Treppen, Podeste, die, parallel oder diametral angelegt, ungeahnte Bewegungsmöglichkeiten eröffnete. Hier erlebte man die Bühne in ihrer immanenten Wandlungsfähigkeit. Hier war die Bühne Raum geworden, und der Darsteller war zum Bewußtsein seiner Glieder gekommen, nachdem früher ein ausgesprochenes Körpergefühl nicht existierte.


Jeder Schauspieler zugleich Tänzer, Akrobat und Sänger — das war bei Tairoff durchgeführt und ist bei uns nur in den wenigsten Fällen über die Forderung hinausgekommen.


Die “Jeßner-Treppe”: Es ist eine der typischen und eine der dümmsten Verallgemeinerungen von Einzelfällen, die durchaus nicht das Wesen dieser Jeßnerschen Inszenierungen bezeichnet. Die Treppe war bei vielen Inszenierungen von Jeßner durchaus nicht wesentlich, nicht vorherrschend. Wesentlich war sie in “Richard III.” und erfüllte hier die Aufgaben der Gliederung der Bühne in einer neuen und außerordentlichen Art. Im “Tell” war das Treppensystem, wie es gezeigt wurde, verfehlt, denn hier mußten die Treppen symbolisieren, sie mußten Gebirge, Täler usw. darstellen, und da Requisiten nicht entbehrt werden konnten, so wirkten sie (Gartenzaun, Sessel des Attinghausen usw.) anorganisch. Sie wirkten als naturalistische Zutat in einem streng architektonischen Gebilde, das unabhängig war von jeder


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