- 195 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Person, die soundso heißt und soundso aussieht. Heute wird die Anonymität möglichst neutralisiert. Man schreit nach dem Bildfunk, man photographiert den Sprecher, den Redner, den Ansager, den Regisseur, den Techniker, den Aufnahmeraum. Schiebt so zwischen das Wort und seine reine Wirkung wieder die Zufälligkeit der Person und der Umgebung. Der Hörer lernt auf diese Weise niemals sachlich hören, sondern reproduziert beim Hören die Bildeindrücke und benutzt sie, um sich vorzustellen, wie der Sprecher vor dem Mikrophon aussieht, agiert. Wie sehr unsere Vorstellungen von der Schaukunst beherrscht sind, beweist auch die Tatsache, daß der Rundfunk sich für das neue Gebiet des Hörspiels ausschließlich des Schauspielers bedient, den das Publikum kennt und dessen Persönlichkeit und Art zu agieren es beim Hören rekonstruieren kann. Sonst wäre es unerklärlich, warum die Sendeleitungen zu diesen rein akustischen Aufgaben nicht den Vortragskünstler herangezogen haben, für den die isolierte Sprechleistung Selbstverständlichkeit ist und der gewohnt ist, auf die Suggestion des Bühnenraums, der Kulisse, des Kostüms, der Maske und auf das Hilfsmittel der darstellerischen Geste zu verzichten.


Die junge Vortragskunst führt einen verzweifelten Kampf, einmal um ihre Existenz neben den Schaukünsten des Theaters, des Tanzes, des Films und neben der mächtigen Konkurrenz der Musik, zum andern um ihre speziellen, selbständigen Ausdrucksformen, die der rezitierende Schauspieler immer wieder mit theatralischen Ausdrucksmitteln verfälscht, denn allzulange war sie nur ein fragwürdiges Anhängsel des Theaters. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß weit eher unter den Vertretern dieser jungen Kunst Pioniere gefunden werden, die ihre ganze Kraft einsetzen für eine neue künstlerische Form des Rundfunks, als unter den Bühnenkünstlern, für die die Bühne das eigentliche Element bleibt und der Rundfunk eine Nebenbeschäftigung ist. Allerdings würde sich die besondere Ausdruckskraft des nur wortgestaltenden Sprechers erst voll entfalten, wenn die Wandlung des heutigen Hörspiels zum reinen Sprechspiel vor sich gegangen ist. Mit dem Mut zur geformten Sprache. Mit.dem Glauben an die magischen Kräfte des Wortes Unter bewußtem Verzicht auf die sogenannte “Lebensnähe”, zugunsten einer tieferen Wahrheit, die sich nie in der Imitation von äußeren Tatsachen erschöpft hat.


Noch wird der Rundfunk allzusehr als Instrument der Massenwirkung empfunden. Dieser Gedanke beherrscht die öffentliche Meinung


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