- 196 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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vollständig und hält die Vertreter einer exklusiven Geistigkeit dem Rundfunk fern. Auch die Rundfunkleiter betonen immer wieder ihre Verpflichtung den Massen gegenüber, so daß die Ansätze in der Programmgestaltung, die exklusive geistige Bedürfnisse berücksichtigen; von denen, die es angeht, nicht bemerkt und von den andern übel vermerkt werden. Der Berliner Intendant Flesch ironisiert diese Scheu vor dem Mikrophon, wenn er schreibt: “Rundfunk hört man zu Hause und allein. Wozu sich also die Mühe geistiger Aufnahme machen?...Ihr Wahlspruch ist: Radio, ja — unsere Dienstboten haben einen Apparat.” Wenn er weiter sagt: “Ich bin einverstanden, denn auch die versnobtesten Herrschaften haben bisweilen in ihrem Personal Menschen, für die allein zu arbeiten es sich lohnt”, so klingt das doch nach Galgenhumor und Bitternis, denn der Schreiber weiß natürlich sehr wohl, daß sich weniger die versnobten als die wahrhaft anspruchsvollen Geister gegen den Rundfunk skeptisch verhalten. Aber auch sie werden einmal den Rundfunk für sich entdecken, als einzigartige Möglichkeit eines sublimierten Genusses von Menschenstimmen, von Ideen, von Dichterworten. Kein Saal, keine beengenden Stuhlreihen, keine Nähe von gleichgültigen Leuten, kein Zwang, keine Ablenkung, nur eine körperlose Stimme und der Mensch, der ganz Ohr ist. Der Gedanke an andere Mithörende versinkt, und taucht er auf, so birgt er die Gewißheit, daß nur Geistesverwandte zuhören, denn nichts zwingt den Wesensfremden, mitzuhören; er hat abgehängt und sich selbst ausgeschaltet aus dem geistigen Zirkel. Dieser Gedanke ist auch beglückend für den Sprecher, der im Theater, im Saal, im Salon niemals gegen Zerstreutheit, Interesselosigkeit und Mißstimmung einzelner Hörer gesichert ist. Der Rundfunk als die exklusive Form des Hörgenusses ist indessen noch nicht entdeckt. Voraussetzung dafür wäre eine Sprechrenaissance, von der wir heute noch weit entfernt sind. Vielleicht hat die allgemeine Sprachverwirrung äußerlich noch nicht einmal ihren Höhepunkt erreicht, aber es müßte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn die ständige Auseinandersetzung mit sprecherischen und sprachlichen Problemen, zu denen uns der Rundfunk immer wieder zwingen wird, nicht zu einem Umschwung in unserm Verhalten und Verhältnis zur Sprache und Wortgestaltung führt. Zumal nicht nur praktische Bedürfnisse, sondern auch neue künstlerische, wissenschaftliche und pädagogische Einsichten den Weg bereiten für das klingende Wort, für den tönenden Atem.


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