- 194 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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sondern motorische Erlebnisse, sie lösen Bewegungsimpulse aus; wie der Tanz, wie die Musik. Sprache und Körper als rhythmische Einheit zu erfassen, ist die Voraussetzung für ein neues elementares Spracherlebnis durch das Mikrophon. Da diese Art des körperhaft plastischen Sprechens noch fehlt, ist man an den Sendern in vielen Fällen dazu übergegangen, auf den Künstler ganz zu verzichten und Dilettanten sprechen zu lassen, entweder die Mitarbeiter der Sender selbst oder Autoren. Die Erfahrung hat gelehrt, daß von einem einfachen, anspruchslosen Sprechen ohne künstlerische Ambitionen eine “menschlichere” (man verwechsle es nicht mit “künstlerischer”) Wirkung ausgeht als von der gefühlsbeladenen, übertrieben artikulierten, nuancenreichen Sprechweise der meisten Schausprecher. Allerdings ist es für die Entwicklung einer künstlerischen Form des Rundfunks sehr gefährlich, wenn dieses kunstlose Laiensprechen zum künstlerischen Dogma des Rundfunksprechens erhoben wird, wie das bereits hier und da geschieht. Es beweist nur, daß wir des alten Tons satt sind und lieber ein Nichts ertragen als eine Gestaltung mit falschen Gefühlstönen. Das darf aber den Bemühungen um eine neue wahrhaft künstlerische Wortgestaltung nicht den Weg versperren.


Die Ausschaltung der sichtbaren Persönlichkeit bei der Rundfunkübertragung bedeutet für eine Zeit der unbegrenzten Schaulust und Schaumöglichkeit eine ganz ungeheure Umwälzung. Eine Stimme dringt ans Ohr. Diese Stimme ist nicht mehr Teil einer Gesamterscheinung, sondern ein losgelöstes, in sich geschlossenes Phänomen. Es ist für den Hörer gleichgültig, ob das zur Stimme gehörige Individuum schön ist oder häßlich, ob sein Auge spricht, ob es von Ergriffenheit geschüttelt wird oder nicht, wichtig ist nur, ob seine Stimme als Erscheinung “voll eigener Figur” wirkt. Es wird offenbar, ob der Sprecher schöpferisch “in Sprache” arbeitet, wie der Bildhauer in Stein, oder ob ihm Sprache nur ein Hilfsmittel unter andern ist, das erst im Gesamtkonzert der Ausdrucksmittel Bedeutung gewinnt.


Auch der Raum und seine Ausstattung ist gleichgültig geworden. Nichts lenkt mehr von der sprecherischen Situation, von der poetischen Landschaft ab. Jedes “In-Szene”-Setzen hört auf. Die mittelalterliche Anonymität hebt an. Damit die Werkleistung, die Leistung um der Sache willen. Sachlichkeit im besten Sinn. Noch begreift die Zeit diese einzigartige Möglichkeit des Rundfunks nicht. Die Stimme ist für den Hörer noch nicht so sehr der Vertreter einer Sache als Vertreter einer


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