- 193 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Naturalistische, die alltägliche oder sensationelle äußere Bewegtheit für das spezifisch Funkische halten wird. Eines Tages wird das reine Wort wieder zum Erlebnis werden! Heute noch gebraucht der Rundfunk das reine Wort mit äußerster Vorsicht. Er glaubt nicht an die dramatische Bewegtheit des Wortes an sich, nur unterstützt von Musik oder Geräuschkulissen glaubt man an seine wahrhaft funkische Wirkung. In der Tat geht von den meisten reinen Sprechsendungen eine große Langeweile oder ein peinliches Mißbehagen aus. Der Funk offenbart durch seinen großen Verbrauch an Rednern weit mehr als die Schallplatte die Unfähigkeit, einen Stoff akustisch lebendig und natürlich zu gestalten. Weder Schule noch Berufsausbildung sah bisher die Notwendigkeit einer besonderen Sprechschulung ein, obwohl die ganze Entwicklung des öffentlichen Lebens — auch außerhalb des Rundfunks — seit langem offensichtlich zur Rhetorik drängt. Die öffentliche mündliche Auseinandersetzung spielt im politischen, bündischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Leben eine weit größere Rolle als vor dem Krieg. Aber erst der Rundfunk mit seinem enormen Bedarf an Rednern und Sprechern hat dieses Problem so in den Vordergrund gerückt, daß die Wiedererweckung der sprecherischen Kräfte eine dringliche öffentliche Angelegenheit geworden ist. “Der Prozentsatz redeungewandter Experten für alle möglichen Sondergebiete ist so groß, daß eine Fülle wichtiger Probleme entweder nur durch sehr unvollkommene Sprecher und in farblosester Form oder gar nicht behandelt werden kann”, schreibt der literarische Leiter des Mitteldeutschen Rundfunks.


Aber auch der vorgebildete Sprecher, selbst der Künstler, versagt oft genug vor dem Rundfunk, weil er seiner Schauwirkung beraubt ist. Die darstellende Geste, die beim Schau-Erlebnis das Wort vertieft und erklärt, ist überflüssig, da durch den Sender nur die Gestik des Wortes dringt. Vor dem Mikrophon wird die dramatische Gebärde sinnlos. Ganz anders wirkt dagegen die rhythmische Bewegtheit des gelösten Körpers, der, von den Schwingungen der Dichtung oder des Textes erregt, zu Mitbewegungen gedrängt wird, die sich unmittelbar auf die Sprache übertragen. Diese Bewegungen sind keine darstellenden, sie sind den Bewegungen eines Dirigenten vergleichbar, die selbst abstrakt die Plastik der Sprache auf eine sehr konkrete Art fühlbar machen. Sie sind der in optische Linien übertragene innere Vorgang. Sie regen den Hörer ganz intensiv zum rhythmischen Mitschwingen an. Sie geben infolgedessen nicht nur akustische,


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