- 192 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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sprachlicher und dichterischer Probleme vorgedrungen ist. Neben der akustischen Bewahrung von Dichtungen ermöglicht die Schallplatte das Stimmporträt, das für das Erlebnis einer Persönlichkeit, für die Rekonstruierung vergangener Ereignisse von unschätzbarem Wert wäre. Für die Erforschung fremder Idiome ist die Schallplatte bereits ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden. So ist die Erfindung der Schallplatte von großer Bedeutung für die Wiedererweckung der klingenden Sprache. Aber erst eine andere technische Errungenschaft hat das gesprochene Wort wieder zu einem Mittelpunkt des allgemeinen Interesses erhoben:


Der Rundfunk.


Hier erst wurde die dominierende Herrschaft des gedruckten Wortes überwunden. Wie die Technik einst im Druck einen optischen Ersatz für Belehrung, Erbauung, Unterhaltung und später im Film für dramatische Dichtung bot, so schuf sie im Rundfunk einen akustischen Ersatz für Zeitung, Zeitschrift, Buch und Bühnenschau. Ja, während das Buch und die Zeitung nur mittelbar durch nachträglichen Bericht und Beschreibung an den Ereignissen teilnehmen lassen, so ermöglicht der Rundfunk das unmittelbare Erlebnis im Augenblick des Geschehens. Dieses kleine unscheinbare Kästchen, Mikrophon genannt, in seinem messingnen Zauberkreis, macht “den Mann, der bis ans Ende der Welt hören kann”, von dem die alten Volksmärchen erzählen, zur Tatsache. Das scheinbar so wirklichkeitsfremde Märchen hat merkwürdig beziehungsreiche Bedeutung für das Zeitalter der Technik, das das Märchen, wie so vieles andere, zum alten Eisen werfen möchte. Im Märchen leben seit Urzeiten als magische Wirklichkeit die zauberhaften Dinge und Kräfte, die uns die Technik zum täglichen Wunder werden ließ. Der Siebenmeilenstiefel, der fliegende Koffer, der Zauberer, der im Nu die Erde umfährt, der Mann, der bis ans Ende der Welt hört, alles das sind Symbole für Dinge, die wir heute besitzen in Eisenbahn, Auto, Flugzeug, Telephon und Radio. Sie sind der Beweis, daß alles, woran der Menschengeist kraft seiner Phantasie glaubt, sich eines Tages verwirklicht.


Der Rundfunk hat das Wort aus seiner optischen Verzauberung erlöst. Die Menschen, fasziniert von der neuen märchenhaften Möglichkeit, die ganze Welt in den engsten Raum zu bannen, hören wieder mit willigen Ohren. Noch sind die Ohren stumpf, noch sind die akustischen Bedürfnisse höchst primitiver Art, aber sie regen sich doch wieder. Die Zeit wird überwunden werden, wo man nur das Aktuelle, das


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