- 190 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (189)Nächste Seite (191) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



in der Sprache des Schauspielers, sondern auch in der dramatischen Produktion bemerkbar macht. Die Vulgärsprache (“Verbrecher“, “Dreigroschenoper“, “Revolte“, “Phäa”) beherrscht die Bühne. Ist ein modernes Versdrama überhaupt noch denkbar? Der Dichter Brecht glaubt so wenig an die Eigenklangform seiner Verse, daß er selbst die Melodien angibt, deren sie bedürfen, während alle Sprechdichtung ihr Klanggesetz in sich seLbst trägt. Oder rechnet er von vornherein mit der Unzulänglichkeit der schauspielerischen Sprachgestaltung? Die Folgen dieser Sprachverarmung hat nicht nur die Dichtung, sondern der Sprecher selbst zu tragen. Er strengt sich in den meisten Fällen übermäßig an und sucht durch einen krampfhaften Aufwand von Gefühl und Nervenkraft das Mißverhältnis zwischen Sprache und Gestaltung zu verdecken. Das ist die Ursache der vielen überflüssigen und ermüdenden dynamischen Akzente auf Bühne und Podium; wovon die neue “sachlich-referierende“ Art nur ein unsinniges, gestaltloses Gegenspiel ist, das nicht aus einem neu erwachenden Sprachgefühl geboren wurde, sondern nur eine Reaktionserscheinung ist, ein Protest gegen die bisherige Gefühlsprostitution beim sprecherischen Ausdruck.


Der große technische Apparat und die starken darstellerischen Kräfte der heutigen Bühnenkünstler sowie die Sprachtaubheit des Publikums lassen diese Mängel nicht klar ins Bewußtsein treten, besonders da die Flüchtigkeit jeder sprachlichen Äußerung eine objektive Beurteilung außerordentlich erschwert.


Aber eine neue technische Erfindung, die


Grammophonplatte,


ermöglichte endlich die Bewahrung des Klanges und sicherte die beliebige unveränderte Wiederholung einer sprecherischen Leistung. Losgelöst von ihrem Erzeuger, losgelöst von der körperlichen und seelischen Bannkraft des Sprechers, kann sie nur noch wirken aus sich selbst. Es fehlen alle räumlichen und mimischen Stimmungs- und Ablenkungsmomente und die persönliche Ergriffenheit oder Begeisterung des Sprechers, die sonst so leicht über Willkür und Krampf, über Leere und Sentimentalität — kurz über die Unfähigkeit, Sprache zu gestalten — hinwegtäuscht, wirkt nur mehr als überflüssige und peinliche Zutat. Die reine unverhüllte Sprechleistung tritt zutage und entlarvt die heutigen Sprecher fast ausnahmslos als Schausprecher, die nicht aus dem Material “Sprache” herausarbeiten, wie der Bildhauer aus dem Stein,


Erste Seite (1) Vorherige Seite (189)Nächste Seite (191) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 190 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik