- 187 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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sie eine Sprache schuf, in der nicht der Klang der Worte entscheidet, sondern die Wortfolge — nicht wie es gesagt ist, sondern wie es gesetzt ist. Das Druckbild bedarf hier nicht der Übersetzung, sondern ist die ursprüngliche und endgültige Erscheinungsform. Der Schriftsteller ist neben


den Dichter getreten, er stellt die Schrift so, daß sie dem Leser unmittelbares Erlebnis wird. Er schafft die Dinge nicht durch Namung wie der Dichter, sondern durch Beschreibung. Er überträgt die räumliche Sprache auf die Fläche und läßt sie zum optischen Phänomen werden, ohne daß wir es als solches empfinden. Was unterscheidet die optische Sprache der Leseliteratur von der akustischen der Sprechdichtung? Beide benutzen scheinbar das gleiche Material: Sprache. Nur strömt das optische Wort von der Vorstellung, vom Gedanken direkt in die Feder, ohne Umweg über die klingende Sprache. Natürlich kann ich auch diese Sprache laut lesen, weil jedes Wort einer Klangkonvention entspricht. Doch der Klang des optischen Wortes hat keinen Eigenwert, er sagt nichts Neues aus, er gibt nichts, was das optische Bild nicht auch schon als Eindruck hervorruft. Das optische Wort ist beweglich und bunt, Farbe und Bewegung aber läßt sich beim leisen Lesen voll auskosten. Darin besteht der Vorteil dieser optischen Dichtersprache, daß sie sich, leise gelesen, bis zur Neige ausschöpfen läßt. Zudem ist ihre Aufnahme bequem. Sie setzt keine andere Vorbildung voraus, als das in der Schule gelernte Lesen, und sie stört die Umgebung nicht. Unsere gesamte Tagesliteratur bietet ihren Lesern Annehmlichkeit und ermöglicht so, daß im engsten Raum eines Lesesaales, einer Hochbahn jeder etwas anderes lesen kann. Der Dichter-Schriftsteller hat sich auf diese Forderung eingestellt, vermutlich ohne sich dessen bewußt zu sein, denn die optische Sprache ist das Ende einer unendlich langen unmerklichen Entwicklung und Umbildung. Sie ist im Bereich der Dichtung dasselbe, was der Film im Schauerlebnis ist: zweidimensional, unter Ausschaltung des Menschen als Mittler. Dem Alter der Buchdrucktechnik entsprechend entwickelte sich diese filmische Sprache lange vor dem Film. Ihre Entwicklung aber ging so unterirdisch, so allmählich vor sich, daß die Ablösung vom Urbild (der klingenden Sprache) unbemerkt blieb und schließlich die optische wie die klingende Dichtersprache für das gleiche gehalten wurde.


Das Erlebnis- und Unterscheidungsvermögen in sprachlicher Hinsicht ist so verkümmert, daß die Begriffe “Dichter” und “Schriftsteller” fortwährend verwechselt werden. “Dichter” und


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