- 186 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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geworden, die unser Mund entziffert. Das Buch hat uns von der räumlich gestalteten Sprache fortgeführt, weil seine Schriftzeichen als Symbol für tönende Sprache denkbar unzulänglich sind. Die Beschränkung der unendlich vielfältigen Sprachlaute, die jeder Menschenmund bildet, auf wenige Buchstaben, das Zerbrechen des organisch gewachsenen und gegliederten Sprachganzen in einzelne Worte, die völlig ungenügende Zeichengebung, die nur Pausen andeutet (diese oft sprechfalsch), die nicht den mindesten Anhalt für Rhythmisierung, Melodie, Dynamik und Artikulation gibt, mußte naturnotwendig das Sprachempfinden abstumpfen, das Klangbild verblassen lassen, so daß uns heute das Druckbild als das ursprüngliche gilt, der Vortrag aber als (erfreuliche oder unnötige) Zutat. Der optische Eindruck ist uns vollkommener Ersatz für das gelautete Wort der Dichtung geworden und hat die Formen der Dichtung, deren Wesen und Sein tönender Atem ist, zurückgedrängt. Das erklärt, warum Gedichte immer weniger “gefragt” werden, warum das Epos trotz neuer moderner Epen die ungelesenste poetische Form ist, warum das Volksmärchen, einst im Volke fest verwurzelt, zur Kinderstubenangelegenheit herabgesunken ist. Nicht ihr Inhalt, ihre Form macht sie unaktuell, denn die heutige verliterarisierte und sprachentfremdete Lesergeneration ist nicht imstande, Zeichen als Notenschrift zu enträtseln. Sie liest die Brechtsche Hauspostille ebensowenig wie Hölderlinsche Verse, obwohl der Inhalt von Brechts Balladen aktuell genug ist. Soweit die heutige Lesergeneration überhaupt noch ein Verhältnis zum guten Schrifttum hat, liest sie den Roman. Der Roman ist das jüngste Kind der Dichtung, und hier hat sich die Umstellung der vom Klang lebenden Sprache zur stummen bildhaften Sprache vollzogen, die als logische Folge der mangelhaften akustischen Zeichengebung unserer Schrift und des überhandnehmenden Leiselesens naturnotwendig eintreten mußte. Hiermit beginnt in der Dichtung die eigentliche Literatur (das an Lettern Gebundene, in Lettern Ausdrückbare), die den modernen Bedürfnissen entspricht und der Technik ihr Dasein dankt.


So haben wir einerseits eine Dichtung, die dieser modernen Entwicklung zum Trotz in ihrer ursprünglichen elementaren akustischen Form verharrt, die sich des Drucks nur als einer Art choreographischer Zeichen bedient, die der Umwandlung in die eigentliche Form bedürfen. Auf der andern Seite entwickelte sich eine Literatur, die sich den Grenzen und Möglichkeiten der Druckschrift angepaßt hat, indem


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