- 185 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (184)Nächste Seite (186) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



Der Zeit der Bewahrung folgte die Zeit der Verbreitung. Als die Bibel der stolze Besitz des Bürgers war, deren Zeichen er mit Mühe und Ehrfurcht entzifferte, schien eine neue geistige Freiheit heraufzuziehen, die das Privileg der Bildung allen brachte. “Aber das Technische hat eine gefährliche Gewalt. Unversehens wird aus dem Mittel der Zweck, aus dem Vorläufigen ein Endgültiges”.1) Die Schrift, ursprünglich Bewahrerin heiliger Zeichen, geheimen Wissens, gelehrten Tuns und Denkens, kostbare Botschaft aus geistigen Bezirken, entwickelte sich durch die Technik des Druckens zum vulgären Verständigungsmittel, zur seichten Unterhaltungslektüre. Dem weitaus größten Teil der lesenden Menschheit ist die Technik des Druckens und Lesens nicht mehr ein “Sesam öffne dich” für geistige Bereiche, für sprachliche Gestaltung, sondern ein Versinken in Banalität, Denkfaulheit und geistige Verblödung. Sprache durch das Auge aufnehmen heißt nicht mehr Sammlung, Bemühung, Vertiefung, sondern Ablenkung, Flucht und Flüchtigkeit. Sensation und Aktualität, um diese Schlagworte kreist das Interesse der Millionen, die nichts als ihre Zeitung lesen. So wurde die geniale Erfindung, die die Kraft und den Geist der Sprache bewahren und weitergeben sollte, in ihr teuflisches Gegenteil verkehrt. Zwar leben unzählige Menschen von der Technik, Sprache in optische Zeichen umzusetzen, aber es sterben unzählige Seelen daran.


Was ist bei dieser Entwicklung aus der


Dichtung


geworden? Sie, die seit Urzeiten in Mund und Herzen der Menschheit lebte, auch sie ist in die papierne Welt des Druckes eingegangen. Wir singen und sagen nicht mehr, wir lesen, was früher tönender Atem war. Der Vers, das Märchen, das Epos, es rettete sich in das Buch. Wir bewahren sie so vor dem völligen Vergessenwerden, — aber was wissen wir von ihrem Tönen, von den Klängen, die ihren Sinn entzaubern? Lyrik, Märchen und Epos, sie bedeuten unserer Zeit wenig oder gar nichts, denn an ihnen versagt die Technik des Drucks, versagt, weil ihr Wesen klingende Sprache ist und tönen will, also unlesbar ist. Dichtung sprechen aber haben wir verlernt, wir sind dem stummen Augenlesen verfallen. Schrift ist für uns nicht zum Notenbild für Klänge

__________

1) Rosenzweig.


Erste Seite (1) Vorherige Seite (184)Nächste Seite (186) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 185 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik