- 184 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (183)Nächste Seite (185) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



naturgemäße Entwicklung, die von der nachahmenden Bilderschrift plastischer Formen zum scheinbar willkürlichen Zeichen führt, dem nur die Konvention einen Sinn gibt. Zeichnet sich die Bilderschrift durch ihren Reichtum, durch ihre Fülle an Bildern aus, so die Lautschrift durch ihre Einfachheit, durch ihre Übersichtlichkeit und weise Beschränkung auf eine kleine Anzahl der geläufigsten und brauchbarsten Zeichen. Eine bequeme Mosaiktechnik gestattet die freieste Verwendbarkeit ihrer wenigen Lautzeichen für jedes Wort.


Ursprünglich stand das geschriebene Wort im Dienst der gelauteten Sprache, sei sie gesprochen oder gesungen. Aber wie das gesprochene Wort neben seinen Gedankeninhalten magische Kräfte bergen konnte (Zauber- und Beschwörungsformeln), so wandelte sich die Schrift “zur wortbeherrschenden, zur heiligen Schrift. Die heiligen Schriften bezeichnen das Ende des wortdienstbaren, des mit Selbstverständlichkeit laut gelesenen Buches, wie es die Antike überall und einzig kannte”.1) Lange, lange blieben diese heiligen Schriften — und die Kenntnis der Schrift überhaupt — kostbarer, geheimer Besitz von wenigen Eingeweihten und Wissenden. Was an heiligen Wahrheiten, Wissen und Dichtung zum Volk drang, erlebte es als klingendes Wort, denn alles war seinem Ursprung nach gesprochenes Wort, tönender Atem und bedurfte der unmittelbaren Wirkung von Mensch zu Mensch.


Das Verhältnis zur klingenden Sprache war ein so unmittelbares, daß die Schrift nur einen sinnbewahrenden Zweck zu erfüllen hatte, nicht aber zur Partitur entwickelt zu werden brauchte, die das Wiederfinden der Sprachklänge erleichtert.


Aber mit dem Fortschritt kam die


Buchdrucktechnik


und damit die mechanische Herstellung des Buches. Das Volk bekam die Möglichkeit, selbst zu lesen, die geistige Freiheit, selbst zu wählen Das geheimnisvolle Wesen der Schriftzeichen offenbarte sich ihm, und die papierne Flut überschwemmte die Welt, besiegte das tönende Wort und drängte es zurück in Dörfer und Waldwinkel, wo es in alten Märchen, Sagen und Liedern noch ein verborgenes Dasein führte, bis der Schulzwang kam und Schreiben und Lesen auch hier das gesprochene Wort verdrängte.

__________

1) Franz Rosenzweig.


Erste Seite (1) Vorherige Seite (183)Nächste Seite (185) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 184 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik