- 179 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Täuschungsbedürfnis entzogen ist, weil man sie selber niemals wahrnehmen kann: die eigene Stimme. Und der Hörer, der nur hört, wird durch nichts mehr, was außerhalb der Stimme lebt, beeinflußt, in die Irre geführt, voreingenommen oder bestochen, er sieht nicht: ob reich, ob arm, ob schön, ob häßlich, nur eines nimmt er wahr: eine tönende Stimme als Ausdruck eines Menschenwesens. So hat denn das Mikrophon etwas vom Jüngsten Gericht an sich: Gelehrte werden manchmal zu klingenden Schellen, Staatsanwälte zu Verbrechern, Dichter oder Kritiker zu Eitelkeitsakrobaten und krankhaft dummen Selbstbespieglern. Während der Philosoph und Ethiker vom Werte der allesverzeihenden Menschengüte doziert, hört man, daß er selbst das ungütigste Luder ist, das je auf Gottes Erdboden herumlief, der große Mime — auf der Bühne in Krone, Schminke und grüngolden schimmerndem Damastkleide der königlichste aller Könige, — zerstört durch den erbärmlichen Wicht, den seine Stimme verrät, auch das größte Dichterwort, und an der Tatsache, daß wohl 90 Prozent aller Frauen im Mikrophon lispeln und durch eine gewisse Affektiertheit des Sprachtons ein Gefühl der Unsicherheit zu betäuben suchen, erkennt man, daß die letztliche Menschwerdung, oder, wenn man lieber will, Mannwerdung der Frau sich noch nicht endgültig vollzogen hat. Singende Kinderstimmen vor dem Mikrophon aber machen an Engel glauben, in dieser Gemeinschaft addiert sich die Unschuld, während die einzelne Kinderstimme oft schon den angeborenen Racker verrät.


Das lebendige Wort also, vor Hunderttausenden gesprochen und dennoch je in ein einzelnes einsames Ohr gesagt, nur gültig, wenn es den Begriff bis zur letzten, lichten Allgemeinverständlichkeit verklärt hat, und als Gefühlsausdruck nur erträglich, wenn es aus einer reinen Menschlichkeit fließt, das sind die Vorbedingungen, aus denen der Rundfunk eine neue Kultur des Wortes heraufführen wird.


Es hieße das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man das Gesetz aufstellen, jeder Vortrag im Rundfunk müsse frei, das heißt ohne Manuskript gehalten werden. Ob jemand nach Stichworten oder unter Anlehnung an ein Manuskript oder unter wörtlicher Abhängigkeit von seinem Manuskript redet, ist eine Frage individueller Eigenschaften, die sogenannte gelesene Schreibe bedeutet nur, daß jemand nach einem Schreibstil zu sprechen talentlos genug ist, nicht aber, daß die vorher aufgeschriebene Rede ihn etwa dazu zwänge. Auch die noch bestehenden sogenannten Zensurvorschriften des Rundfunks haben mit dieser


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