- 178 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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abzufassen, daß die von diesen Erlassen und Verfügungen Betroffenen sie auch verstehen können. Man spreche nicht vom Amtsschimmel, sondern bedenke, daß heute jede geistige Zunft auf einem andersfarbigen Sprachtiere reitet, dessen unverfälschte Abstammung von dem gewaltigen Urahn einer Sprache, die Gemeingut aller war, einigermaßen in Zweifel gezogen werden darf. In den Lesezeitaltern ging die Pflege des lebendigen, gesprochenen Wortes mehr und mehr vom schöpferischen in den reproduzierenden Mund über, der aus dieser Reproduktion sein Handwerk gemacht hat, und die freie Entfaltung einer schöpferischen Persönlichkeit in der Rede ist vielleicht das seltenste Ereignis geworden, an dem ein Heutiger teilhaben kann. Unsere Politiker sprechen Partei, unsere Staatsanwälte sprechen Polizei, unsere Prediger sprechen Kanzel, der Mensch aber spricht heute nicht mehr. Er wird wieder sprechen.


Der Rundfunk hängt vor seinen Mund ein Gerät, das sein Wort zu der größten Zahl von Ohren trägt, die jemals einem Sprechenden gelauscht haben. Und er weiß von denen, die ihm zuhören, nur dies eine, daß sie nämlich Menschen sind, und der Teufel holt ihn sofort, wenn er nicht eben auch dieses eine ist: ein Mensch, das heißt eben nicht nur ein Professor, ein Staatsanwalt, ein Politiker, ein Prediger, ein Literat, ein Spezialist, sondern eben wirklich ganz groß und ganz einfach: ein Mensch.


Und so offenbar wie das Wort menschliches Gesamtwesen ausdrückt, so geheimnisvoll drückt die Stimme das Einzelwesen aus. Wenn Feinfühligkeit in der Handschrift eines Menschen seinen Charakter in allen Einzelzügen entdeckt hat, so bedarf es dieser Einfühlungsgabe kaum, um in der Stimme eines Menschen auch noch seine verborgensten Eigenschaften zu entdecken. Als vor einigen Jahrzehnten über Nacht die Bärte der Männer fielen, hatte man plötzlich lauter Schufte zu Freunden, und wenn man etwa selbst in den Spiegel sah, erschrak man vor sich selber. Und es dauerte eine Weile bis die Selbstkontrolle den hämischen Ausdruck der Mißgunst, der Eitelkeit, der Härte, der Überheblichkeit, ja, des Lasters und des bösen Gewissens, der unter dem Barte gewissermaßen in sicherem Verstecke geblüht hatte, von den nackt gewordenen Lippen irgendwohin verschob, wo eine gleiche Verborgenheit noch gesichert schien. Der Graphologe weiß, daß fast jede Theaterheroinenhandschrift in ihrer Struktur einen Napoleon vorzutäuschen sucht. Auch Photographen schreiben oft so. Nur eine Wesensäußerung gibt es, welche der Selbstkontrolle und dem


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