- 149 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (148)Nächste Seite (150) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Ernst Krenek: Der schaffende Musiker und die Technik der Gegenwart


keine Gewerkschaft imstande, und soweit sie eo ipso vorhanden ist, haben die damit behafteten Menschen längst vor der Demokratie den Weg zur Kunst, jeder auf seine Weise, gefunden. (Anm.1: Als etwas Großartiges muß der Versuch bezeichnet werden, der Gefahr, daß die durch die Technik ins Unendliche verbreitete Musik auf eine unvorbereitete Masse stößt und dadurch in ihrer Wertung Schaden leiden könnte, durch radikale musikalische Schulung des ganzen Volkes zu begegnen. Ob das möglich ist, kann wohl erst nach Generationen entschieden werden, obschon man dem Versuch allen Erfolg wünschen mag.) Ein Tiroler Bauer, der, wenn er in die Stadt kommt, vielleicht ins Museum geht, um zu sehen, wie andere Leute die Heilige Jungfrau gemalt haben, damit er für die Herstellung seiner Marterln etwas profitiere, scheint mir interessanter als tausend Halbgebildete, die sich die Neunte Symphonie anhören, weil man das durch den Verein jetzt billig haben kann. Ist nun also die Grundlage zum Eingang ins Innere der Kunst ein individuell zu bekundendes Verlangen danach auf der Basis einer noch so geringen Veranlagung zum Verständnis, so gibt es doch ein allgemeines Moment, das die Wahrnehmung und Pflege solcher individueller Interessen fördert, nämlich die Muße. Da die Kunst eben nicht zwischen Delikatessenhandlungen und Raseurgeschäften in jeder Gasse verhökert wird, sondern ohne Zweifel nur in bestimmten Bezirken und in besonders qualifizierten Anlagen verabreicht werden kann, so muß der Mensch, der sie haben will, den Umweg, auf dem er vielleicht nicht eben viel irdische Güter bequem im Vorbeigehen mitnehmen kann, nicht scheuen; dazu muß er aber Zeit haben, und die läßt ihm die Technik nicht. Das liegt nun vielleicht zum wenigsten an der Technisierung der Arbeit. Diese hat ja angeblich den Endzweck, die Arbeitslast des Menschen dauernd zu verringern, und manchmal wird sogar behauptet, daß schon heute weniger gearbeitet werde als früher, obgleich jedenfalls im Verhältnis zur Absatzmöglichkeit viel zuviel hergestellt wird. Entscheidend für unsere Frage ist die Technisierung und Industrialisierung der Zerstreuung, also alles dessen, was der Mensch in seiner freien Zeit tun kann. Da es die Vervollkommnung und das Umsichgreifen technischer Methoden erlaubt, auch das Vergnügen serienweise und mechanisch zu produzieren, herrscht ein derartiges Überangebot an Zerstreuung, daß niemand mehr genug Zeit hat, um sie zwischen all diesen verlockenden Möglichkeiten zu teilen. Es gibt gar nicht soviel Zeit, wie sich die Menschen heute vertreiben. Nun ist es


Erste Seite (1) Vorherige Seite (148)Nächste Seite (150) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 149 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik