- 72 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
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Bestätigung des Bestehenden auszusetzen. Das Positive einer Utopie soll also zu seinem Recht kommen, ohne unkritisch werden zu müssen. Dies sei folgendermaßen gerechtfertigt:

These 1: Die Kritische Theorie, die in der ästhetischen Praxis vom Primat der Negativität ausgeht, hat ihre Wirkung insofern verfehlt, als ihre gesellschaftliche Tragfähigkeit nicht abzusehen ist. Wie Sloterdijk feststellt, ist die nunmehr in Teilen abgeklärte und zynische Gesellschaft gegen rein Negatives abgestumpft (vgl. Sloterdijk 1983, 17). Ich denke, daß die gegen die ausschließliche Vermittlung von Leid (weitestgehend) unempfindliche Gesellschaft die Bestimmung einer positiven und kritischen Utopie notwendig macht.

These 2: So ist in meinen Augen eine Kunst gerechtfertigt, deren Rezeption immanent ästhetische Erfahrung bedeutet und hierdurch zu einem Teil erlebter Utopie wird: ästhetische Erfahrung als Erlangung einer Teilutopie. Denn nur aus dem Vorgeschmack dessen, auf das gehofft wird, läßt sich Hoffnung als Lebensprinzip erhalten. Eine Kunst hingegen, die die Hoffnung aus der ästhetischen Erfahrung ausschließt, macht die Utopie utopisch. Die Nichterfahrung vom utopischen Prinzip in der ästhetischen Erfahrung - der Hoffnung - gräbt der Utopie das Wasser ab.

An einer negativen vs. positiven Position scheinen sich im ästhetischen Diskurs die Wege zu scheiden. Im folgenden soll gezeigt werden, daß der Mittelweg zwischen der positiven Vision und der kritischen Negation zu einer Lösung führen kann. Der Mittelweg ist aber in der Tat eine Gratwanderung. Der Mensch braucht - wie Horkheimer als Mitglied der Frankfurter Schule selbst eingestand - die Vision vom subjektiven Glück (vgl. Horkheimer 1952, 14). Alles andere ist nicht lebbar oder trägt, wie Sloterdijk schreibt, selbstzerstörerische Tendenzen. Ästhetische Erfahrung kann Ausdruck eben dieser visionären Hoffnung sein, die auf die Erfüllung der Utopie ausgerichtet ist. Die Gefahr ist jedoch, die kritisierenswerten Dinge der Realität in der ästhetischen Erfahrung zu verdrängen, die Wirklichkeit zu verlieren. Dadurch verliert die Erfahrung ihr Ziel, die Utopie, und wird zur Illusion. Dieser Schein - der Friede, auf den die Menschheit noch harrt, wäre schon - impliziert ein gesellschaftliches Problem. Diese Haltung genügt sich selbst, negiert die Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft. Sie negiert die Möglichkeit der Veränderung, weil der Bedarf an privatem Glück gedeckt und die Notwendigkeit kritischen Handelns nicht mehr erforderlich scheint. Fällt die Kritik aus dem Konzept der Ästhetik, wird letztere ethisch unglaubwürdig. Kann ästhetische Erfahrung jedoch Leid und Hoffnung kritisch und doch hoffnungsvoll zu ihrem Thema machen, dann ist sie als Erfahrung denkbar, die dem Rezipienten wieder Kraft zur Selbstreflexion gibt. Aus ihr kann er die Erkenntnis gewinnen, was er schon ist und was er noch nicht ist (vgl. Marquard 1994, 89ff.). So stellt sich aus der ästhetischen Erfahrung die Balance aus positiver und negativer Bestimmung seiner Existenz ein, denn aus ihr kann er die Kraft schöpfen, dem Bestehenden kritisch zu begegnen und zum Erwünschten hin zu verändern.

Wie läßt sich vor diesem Hintergrund Bachs und Pärts Musik als Gegenstand ästhetischer Erfahrung denken? Die Rezeption von Bach und Pärt ist innerhalb dieses ästhetischen Konzepts folgendermaßen zu bewerten: Bachs Johannespassion ist für den Rezipienten seine vermittelte Realität. Sie macht ihn betroffen. Betroffenheit ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Kategorie, denn sie impliziert


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