- 73 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (72)Nächste Seite (74) Letzte Seite (76)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Nähe zum vermittelten Gegenstand und setzt Identifikation voraus. Kritik kann gerade auf diesem Boden erwachsen, wenn auch Betroffensein nicht notwendigerweise Kritik und Handeln nach sich ziehen muß. Letztlich wirkt Bachs Musik als Katharsis, die den Betroffenen von seiner Spannung befreit. Befreiung kann man hier nur als momentanes Phänomen beschreiben, denn der Zustand vermittelter Erfahrung ist von begrenzter Dauer. Ästhetische Erfahrung hat somit etwas von der erwünschten Vision, aber nur für kurze Zeit. Die Utopie eines Lebens ohne die spannungsvollen Bedingungen von Leid und Hoffnung ist durch diese Erfahrung nicht zu ersetzen.

In der Rezeption von Pärts Passio distanziert vermittelte Fiktion den Hörer von seiner spannungsvollen Realität. Distanz zur Realität wird oftmals als Wirklichkeitsverlust bezeichnet - ein Vorwurf, der nicht selten an die Pärtrezeption gerichtet wird. Distanz muß aber nicht unwillkürlich Illusion bedeuten, genausowenig wie Katharsis notwendigerweise Passivität und Selbstgenügsamkeit; von der Qualität der ästhetischen Erfahrung läßt sich kaum auf implizite ethische Haltungen schließen, nur auf potentielle. Die Distanznahme bei Pärt birgt ein anderes reflexives Potential als die Betroffenheit durch Bachs Musik. In der Ausblendung gewisser zeitlicher Strukturen, im fokussierten Blick auf reduziertes Konzentrat bietet sich hier dem Rezipienten die Möglichkeit, mit Distanz die Konstituenten seiner Lebensrealität zu reflektieren. Die ästhetische Erfahrung geht einen Schritt hinter die dramatische Wirklichkeit zurück, um andere Sichtweisen zu gewinnen. Dies ist in der Tat ein scheinbar unzeitgenössischer Blickwinkel, denn in "[...] der polyperspektivisch zerborstenen Welt gehören die großen Blicke aufs Ganze tatsächlich mehr den schlichten Gemütern, nicht den Aufgeklärten."(Sloterdijk 1983, 18) Wenn es zum totalitären Gestus der pluralisierten Gegenwart gehört, die Auflösung aller Zusammenhänge für unumstößlich zu halten, wäre es an der Zeit, dieses Dogma zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang gewinnt die ästhetische Erfahrung von Pärts Musik eine neue Dimension. Statt Wirklichkeitsverlust müßte von kritischem Wirklichkeitsgewinn gesprochen werden. Meines Erachtens weist sich Pärts Ästhetik in diesem Erfahrungszusammenhang als immanent kritisch und provokant aus, insofern sie sich gegen ein Verständnis von Pluralismus wendet, das nur subjektive ästhetische Formen zuläßt und die anderen negativ sanktioniert. Ferner gilt auch für die Rezeption von Pärts Musik, daß sie die Utopie, für die sie steht, nicht ersetzen kann. Die Versenkung in zeitlose Kontemplation kann zwar den Wunsch nach einer spannungslosen Zukunft in sich bergen, den Rezipienten jedoch nur momentan erleichtern. Letztlich ist denkbar, daß Rezeption von Bachs und Pärts Musik als ästhetische Erfahrung zur kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Lebenswirklichkeiten beitragen kann. Die Erfahrung von Betroffenheit (Bach) oder Distanz (Pärt) birgt Potentiale für kritische Reflexion und Handlung in sich. Dies findet insbesondere dann einen gesellschaftlichen Bezug, wenn ästhetische Erfahrung als Teil einer nicht durch sie ersetzbaren Utopie gedacht wird.

5  Schlußbemerkung

Die rezeptionsästhetische Analyse von Bachs bzw. Pärts Johannespassion stellte die unterschiedliche Materialstruktur der beiden Werke vor. Es wurde gezeigt, wie

Erste Seite (1) Vorherige Seite (72)Nächste Seite (74) Letzte Seite (76)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 73 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik