- 71 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
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der Hörer in der Musik das ihm Fremde erfährt und aus den Bedingungen seines realen Dramas enthoben ist, gewinnt er Distanz zur Realität. Dabei wird er immer wieder mit dem Gleichen auf reduziertestem Niveau konfrontiert. Der ruhig bewegte Stillstand zwingt zu einer Auseinandersetzung mit dem Konzentrat des Materials und erfordert dadurch die Konzentration des Rezipienten. Die Rezeption der Passio könnte man daher mit den zirkulären Zeitstrukturen konzentrierter Kontemplation vergleichen (vgl. Hörz 1990, 974). Daraus ist zu schließen, daß die ästhetische Erfahrung von Pärts Musik durch vermittelte Distanz zur Realität kontemplativen Charakter hat.

3.3  Vergleich der Konkretisationen bei Bach und Pärt

Vollzieht sich die Konkretisation von Bachs Musik durch den Bezug auf die Realität, hebt das Erlebnis von Pärts Musik auf eine irreale Welt ab. Spiegeln sich in der einen die realen Gesetzmäßigkeiten des Hörers wider, setzt die andere diese außer Kraft. In Bachs Musik identifiziert sich der Rezipient mit seinen realen Vorerfahrungen, bei Pärt geht er über diese hinaus und gewinnt Abstand zu ihnen. Aus dieser Differenz ergeben sich die unterschiedlichen Wirkungen: einerseits das spannungsvolle Drama mit kathartischem Effekt (Bach) und andererseits die spannungslose Distanz mit kontemplativer Wirkung (Pärt). Gemeinsam ist beiden Konkretisationen ihre Eigenschaft als ästhetische Erfahrung. In beiden ist das Potential positiven, hoffnungsvollen Erlebens eines Kunstwerkes. Bei Bach ist es die momentane Befreiung von den affektiven Spannungen menschlich zwiegespaltenen Daseins, bei Pärt ist es eher die Distanzgewinnung zu realen Lebensbedingungen, wie Zeit und Polarität. Der Begegnung mit den verschiedenen Passionswerken liegt jeweils sinnliches Erleben zugrunde, was im Erwartungshorizont des fiktionalen Hörers eng mit Leid und Hoffnung zusammenhängt (s.o.). Die erlebte affektive Qualität ist zwar eine jeweils andere. In beiden Fällen handelt es sich aber um Leidensmusik, die für den Rezipienten die Funktion von Leidbewältigung haben kann. Sieht man Bachs und Pärts Passionen in diesem Zusammenhang als Leidensmusik, kann man kaum die Frage nach der gesellschaftlichen Ursache des Leides umgehen, zumal die Überlegungen zum fiktionalen Rezipienten ursprünglich von seinen anthropologischen und sozialen Befindlichkeiten ausging. Es ist hier wohl nicht das Ziel, soziologischen Fragen auf den Grund zu gehen. Wenigstens muß jedoch überlegt werden, wie sich die beschriebenen ästhetischen Erfahrungen grundsätzlich zur Gesellschaft verhalten. In der Tat ist damit eine Frage der Ästhetik angesprochen, die schon lange diskutiert und in diesem Zusammenhang kaum beantwortet werden wird: Wie können Ästhetik und Ethik zueinander finden (vgl. Jauß 1972, 38ff.)? Genügen Befreiung und Distanznahme von den Spannungen des Lebens sich selbst oder bedarf es einer ästhetischen Erfahrung, die auch zum Handeln und Kommunizieren anregt?

4  Kleine Apologie der positiven Utopie

Denkt man positive Utopie als übergeordneten Zusammenhang ästhetischer Erfahrung, kann letztere ihren gesellschaftlichen Ort finden. Problematisch ist jedoch, eine positive Utopie zu begründen, ohne sich dem Vorwurf der kritiklosen

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