- 70 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
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Subjekts an. Der Rezipient findet in ihr ein alternatives Angebot zur pluralisierten Subjektivität: eine objektive Einheit, die es dem Glauben an seinen subjektivierten Fortschritt geopfert hat. Pärts Musik bietet ihm nun die Möglichkeit, Reduziertes und Wesentliches zu erfahren, die ihn eine objektive Ordnung erahnen lassen. Das fortwährend Gleiche des musikalischen Materials stellt sich dem stets Veränderlichen der Gegenwart entgegen. Dem linearen Zeitempfinden der Moderne hält Pärt zyklische Momente entgegen, die mythische Zeitphänomene vergangener Zeiten berühren (vgl. Hörz 1990, 977). Auch in den musikalisch linearen Strukturen bietet sich dem Hörer nicht die Dramaturgie des Lebens. Hier ist der zeitliche Prozeß in jeder Hinsicht undramatisch. Subjektive Lebenswirklichkeit des Rezipienten und Pärts objektive Musik haben also kaum einen gemeinsamen Nenner. In Pärts Musik vermittelt sich ihm etwas Irreales, das ihm fremd aber möglicherweise wünschenswert ist. Mit Bloch könnte man etwa von dem anderen sprechen, das der Mensch zu erfahren sucht, weil es ihm in seinem Wesen fehlt. Warum der Hörer sich derart Widersprüchlichem hinwendet, könnte man ferner mit Horkheimer erklären, der davon ausgeht, daß der objektive Mythos zwar entzaubert wurde, jedoch seine Spuren im Subjekt hinterließ. Das Objektive ist zwar hinterfragt, lebt aber als Wunsch nach dem Verlorenen im Menschen fort (vgl. Horkheimer 1952, 14).

Wunsch und mangelhafte Realität bestimmen auch die Wahrnehmung der kontrastarmen Wirkungsstruktur in Pärts Musik. In ihr erfährt der Hörer einen Zustand der Spannungslosigkeit, in dem sich das Material kaum verändert und kaum Kontrast zeitigt. Im Gegensatz zur menschlichen Lebenswirklichkeit gibt es in der Johannespassion kein Drama. Die im realen Leben miteinander kämpfenden Gegensätze werden bei Pärt undramatisch versöhnt. Pärts Johannespassion ist dem Rezipienten dadurch fremd, bietet ihm jedoch etwas, das er aus sich selbst nicht haben kann. Insofern kann man sagen, daß sich die Rezeption von Pärts Musik als Vermittlung einer utopischen Welt konkretisiert.

Schließlich stellt sich die Frage nach der Eigenart und Relevanz dieser ästhetischen Erfahrung. Pärts Musik vermittelt sich visionär. Die ästhetische Erfahrung ist der Realität enthoben und gleicht einer utopischen Fiktion. Sie ist aber nicht die Illusion von Glück. Das Material bietet sich nicht an, dem illusionären Wunsch des Rezipienten nach euphorischer Harmonie nachzukommen. Denn das Gegensätzliche existiert noch, auch wenn die Spannungen abgeschwächt sind. Für den Hörer bedeutet dies ein Ende der polaren Spannungen, nicht aber das Ende von Leid. Glück und Schmerz sind in ihm nach wie vor zugegen, doch existieren sie nebeneinander, kampflos, versöhnt. Insofern hat die Erfahrung dieser Musik die Qualität eines Traumes, in dem die Spannungen der Realität wie auch die (reale) Entwicklung der Zeit aussetzen, nicht aber die Grundbedingungen des Menschen: Hoffnung und Leid. Pärts Musik ist folglich eine Auszeit für die polaren und zeitlich linearen Bedingungen der Realität, erhält aber das Substrat ihrer realen Konstituenten. Indem


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