- 69 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
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sich das System verkürzt zurück. TZ 37 enthält vier Phrasen. Die beiden letzten sind bereits der Anfang der neuen Sequenz). Dieses Verfahren ist extrem mathematisch und folgt einem strikten Schema. Die Schichtung und Kombination von Stimmen ist zwar textlich vorstrukturiert, wird aber in ihrer letztlichen Ausgestaltung nicht allein vom Text, sondern möglicherweise auch von architektonischen (evtl. auch optischen?) Gesichtspunkten geleitet. Es entsteht dadurch eine musikalische Welt, die vom Geschehen des dramatischen Textes weit entfernt ist. Der musikalische Prozeß ist unabhängig von der dramaturgischen Anlage des Bibelberichts.

In dieser objektiven, schematischen Verregelung des Materials ist eine zeitliche Wirkungsstruktur angelegt. Die allen Strukturen zugrundeliegende Basis sind Dreiklang und Leiter, die sich repetitiv ziellos um sich selbst bewegen. Dieses Prinzip ist die Absage an einen fortschreitenden Prozeß, denn innerhalb dieser elementaren Kleinstrukturen gibt es keine Fortentwicklung. Der Anfang könnte das Ende sein und umgekehrt. Mikroskopisch betrachtet beinhaltet jede Stelle der musikalischen Textur das Gleiche. Mißt man die Musik an der elementaren Veränderung ihrer Kleinstbausteine, steht sie zeitlich still (vgl. Hörz 1990, 970ff.). In sich sind Leiter und Dreiklang aber bewegt und durchmessen verschiedene Positionen. Von Anfang bis Ende bleiben die Elemente gleich und bewegt; sie könnten immer so fortfahren oder wieder von vorne anfangen und den Kreis schließen. Insofern könnte man im Hinblick auf Zeitaspekte des Tintinnabuli-Stils vom zirkulär bewegten Stillstand der Zeit sprechen (vgl. Hörz 1990, 972).

Betrachtet man das Schema größerer Einheiten in der Johannespassion, zeigen sich indes zeitlich andere Aspekte. Das Beispiel der Evangelisten macht deutlich, wie sich die zirkulär bewegten und dennoch unveränderlichen Bausteine zu einer zeitlich anderen Konstruktion zusammenfügen. Hier werden die mikroskopischen Elemente nacheinander geschichtet und später wieder abgetragen. Es kommt durch Aufbau und Abbau von Stimmen und Begleitinstrumenten zu linearen Prozessen. Die Textur verändert im Ganzen betrachtet nach und nach ihre Gestalt, wodurch es ein Vorher und Nachher gibt. Im Material schreitet die Zeit linear fort. Zeitlich betrachtet ist Pärts Johannespassion also ambivalent. Dreht sich die Zeit im Kern der Musik um sich selbst, schreitet sie im Ganzen z.T. linear voran (vgl. ebd., 972f.). Wie verhalten sich nun Text und Musik vor diesem Hintergrund zueinander? Pärts Musik ist eine eigene Welt, die sehr unabhängig von der des Textes ist, sofern sie den dramatisch expressiven Inhalt des Textgeschehens und seine Zeitstruktur ignoriert. Die musikalische Welt wendet sich vom textlichen Drama ab und erzeugt ihren eigenen zeitlichen Rhythmus.

Wie ist nun die Frage nach der Konkretisation, der Synthese aus Materialangebot und wahrnehmender Selektion des Hörers, zu beantworten. Pärts Musik (objektiv-kontrastarm) und die Erwartungen des fiktionalen Hörers (subjektiv-spannungsvoll) stehen im Widerspruch zueinander. Es soll gezeigt werden, daß sich das Widersprüchliche dieser Konstellation im Rezipienten als gegensätzliche Ergänzung konkretisieren kann. Odo Marquard und Max Horkheimer zeigen, daß das emanzipierte Subjekt seine Lebenswelt entzaubert und für seine Loslösung vom Objektiven viel preisgibt. Durch den Verlust des Objektiven, durch die gegenwärtige Pluralisierung und Dekonstruktion der Sinnzusammenhänge wird es für den Menschen immer schwieriger, sich zu orientieren. Hier setzt der Zweifel des Subjekts an sich selbst an, ob es kraft seiner Fortentwicklung die Lebenswelt nicht nur zum Neuen, sondern auch zum Besseren wenden kann. Denn sein uneingeschränkter Glaube an die heilbringende Vernunft, namentlich an die Aufklärung und das Projekt der Geschichtsphilosophie, ist nicht zuletzt in den Katastrophen von Nationalsozialismus und sowjetischer Diktatur verlorengegangen. Pärts Musik setzt an diesem Zweifel des


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