- 65 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
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3.2  Pärts Johannespassion

Pärts Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Joannem - kurz Passio - zeichnet sich durch die Reduzierung auf Grundbausteine der Musik aus. Dreiklang und Linie verbinden sich zu einem Element und bestimmen ihren Gesamtverlauf. In stilistisch elementarisierter Vereinheitlichung ergibt sich dadurch ein hohes Maß an Kontrastarmut des Materials. Dennoch lassen sich in Pärts musikalischer Textur voneinander unterscheidbare Phänomene ausmachen, die jedoch kaum spannungsvoll kontrastieren. Kontrastentspannung schwächt hier Differenzen ab.

Arvo Pärts Passio besteht aus sechs verschiedenen kompositorischen Schichten: Exordium und Conclusio rahmen den Mittelteil, der sich aus Evangelistenbericht, Turbachören und den Protagonisten Jesus und Pilatus zusammensetzt. An einem Ausschnitt der Evangelistenpartie läßt sich exemplarisch die innere Kontrastarmut von Pärts musikalischem Material aufzeigen (vgl. Passio, Evangelist, Taktziffer 114).

Die musikalische Textur besteht immerzu aus Dreiklangsbrechungen und Sekundfortschreitungen. Die Umkehrungen des a-moll-Dreiklangs ziehen sich durch Sopran und Tenor, Versatzstücke aus der natürlichen a-moll-Tonleiter durch Alt und Baß. Genauso unterscheiden sich die instrumentalen Begleitungen voneinander. Die Violine schreitet linear fort, die Oboe hingegen arpeggiert. In Anlehnung an den glockenähnlichen Klang des Dreiklangsmaterials bezeichnete Pärt dieses Verfahren als Tintinnabuli-Stil (Tintinnabuli ist das lateinische Wort für Glöckchen, vgl. Hillier 1997, 87).

Tonzentrum (a) und Akkordmaterial (a-moll) dieses Abschnittes bleiben konstant, so daß es im Sinne der klassischen und romantischen Ästhetik zu keinen harmonischen Zusammenhängen zugunsten repetitiver, harmonisch zielloser Strukturen kommt10. Ohne harmonische Anspannung und Entspannung wird die Musik kontrastarm und spannungslos, was durch den Verzicht auf auskomponierte Dynamikveränderungen verstärkt wird.


Tabelle 3: Arvo Pärt - Vergleich der musikalischen Texturen im Mittelteil der Passio

Die Tabelle 3 veranschaulicht die Differenzen der musikalischen Fraktur. Pärt vertont z.B. die Jesusworte mit durchschnittlich längeren Notenwerten als den übrigen Evangelientext. Die Tondauern der Pilatuspartie fallen vergleichsweise geringfügig, die der Evangelisten hingegen deutlich kürzer aus. Ebenso variieren die Tonzentren, das akkordische Material und die Instrumentation der einzelnen Abschnitte. Ferner kontrastieren solistische Vokalbesetzungen (Jesus, Pilatus) mit vokalen Ensembles (vierstimmiger Chor und Vokalquartett der Evangelisten). Warum aber Gegensätzliches nicht so stark hervortritt und spannungsarm miteinander versöhnt wird, ist darauf zurückzuführen, daß das gesamte Material im Mittelteil thematisch einer Keimzelle entspringt: Dreiklang und Leiter. Was sich hier verändert, bleibt in seiner Gestalt dem eingangs beschriebenen Prinzip immer so ähnlich, daß die Gegensätze zwischen den einzelnen Gruppen abgeschwächt werden. Der Tintinnabuli-Stil ist in allen Schichten gegenwärtig und gibt den graduellen Abstufungen seines Prinzips dadurch eine Einheit. Der einheitlichen Ausrichtung der musikalischen


10 Man kann nicht generalisierend von minimalistischen Eigenschaften in Pärts Musik sprechen. Hier ist damit das Reduzierte, Repetitive und Nichtfunktionale gemeint, was viele minimalistische Werke auszeichnet. Das Problem des Begriffs minimal music kann hier nicht ausführlich diskutiert werden, vgl. Grünzweig 1997, 297f.

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