- 64 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (63)Nächste Seite (65) Letzte Seite (76)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Abweichung von der Norm in Bachs Musik, ist dem fiktionalen Rezipienten wie ein Spiegel, in dem er seinen eigenen Bruch mit der Tradition und die Entzauberung der Welt entdeckt. Wird das Material veränderlich, so wird es zeitlich. Insofern birgt die subjektive Musikerfahrung einen immanent zeitlichen Aspekt in sich. Die sich entwickelnde Musik vermittelt dem Hörer das Gefühl vom linearen Fortschreiten der Zeit, die vielen Prozessen seiner erlebten Wirklichkeit sehr nahekommen kann. Insofern könnte man bei Bachs Johannespassion von subjektiver Musik als vermittelte Realität des subjektiven Menschen sprechen. Andererseits entspricht der Kontrast in Bachs Musik der zwischen Hoffnung und Leid polarisierten Existenz des Hörers. Bachs Passionsmusik wird ihm zum existentiellen Drama, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihm der dort thematisierte Tod keine mythologische Eschatologie verheißt, wie ehemals im christlichen Zusammenhang. Der Tod bleibt als radikale Hinterfragung im Raum zurück und fordert die Hoffnung prinzipiell heraus. Knüpft der subjektive bzw. polare Lebenshintergrund des Rezipienten am subjektiven bzw. kontrastierenden Material an, wird Bachs Johannespassion für den fiktionalen Rezipienten zur ästhetischen Erfahrung, in der er seine eigene Lebenswirklichkeit identifiziert, sofern er in ihrem musikalischen Material seine eigenen gesellschaftlichen und anthropologischen Vorbedingungen erfüllt sieht. Ist Bachs Johannespassion für den Hörer wie das Drama menschlicher Realität, stellt sich die Frage nach der Qualität seiner ästhetischen Erfahrung. Ist sie für ihn über die Anknüpfung von Leben und vermittelter Kunst hinaus relevant, oder bleibt sie in der spannungsvollen Konstatierung von Leid und Hoffnung stehen? Meines Erachtens erfährt der Rezipient in Bachs Musik eine über die Realität hinausweisende Qualität. Dies sei mit Aristoteles' Dramentheorie begründet: Aristoteles zeigt in seiner Poetik, daß Tragödien erst dann wirken, wenn ihre Handlung vom Leid ins Glück umschlägt und umgekehrt, möglichst schlüssig und doch überraschend (vgl. Aristoteles 1994, 35-43). Hier zeigen sich Parallelen zur Struktur von Bachs Johannespassion, deren Kontrastspannung man mit Aristoteles auch als Umschlag gegensätzlicher Strukturen bezeichnen könnte. Der Grundsatz aristotelischer Ästhetik ist aber, daß die in Kunst vermittelte Realität wie das wirkliche Leben erscheinen kann, nicht aber das wirkliche Leben ist (vgl. Aristoteles 1994, 7), daß Leid und Hoffnung in der Kunst imaginär und vermittelt sind. Hans Robert Jauß interpretiert dieses ästhetische Prinzip bei Aristoteles als imaginäre Distanz der ästhetischen Erfahrung, in der Kunst zwischen Wirklichkeit und Rezipient steht (vgl. Jauß 1972, 40). Aristoteles zeigt, daß der Rezipient in diesem imaginären Freiraum durch das Wechselbad der Kontraste erregt und emotional gereinigt wird (Katharsis, vgl. Jauß 1972, 19). Erfährt also der Rezipient das Spannungsvolle in der Johannespassion wie seine Wirklichkeit, identifiziert er sich mit ihr. Leid und Hoffnung als Bedingungen seiner Wirklichkeit teilen sich ihm jedoch als in Kunst vermittelte Erfahrung mit, so daß er sich in ihr von seinem Leid befreien kann. Folglich wirkt die ästhetische Erfahrung von Bachs Johannespassion für den fiktionalen Rezipienten durch vermittelte Identifikation mit seiner Lebenswirklichkeit als Katharsis.


Erste Seite (1) Vorherige Seite (63)Nächste Seite (65) Letzte Seite (76)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 64 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik