- 61 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
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In eben dieser Spannung von Emanzipation und Entzauberung steht der fiktionale Hörer, die ihn seine positiven Möglichkeiten der Entwicklung wie auch die Schattenseiten seiner Begrenztheit erfahren läßt.

Ernst Bloch zeigt, welche anthropologischen Bedingungen sich aus dieser konträren gesellschaftlichen Konstellation ergeben. Leid und Hoffnung sind für ihn die wesentlichen Konstanten menschlicher Existenz - so auch für den fiktionalen Rezipienten. Bloch sieht im Streben des Menschen nach Veränderung und Erfüllung - in der ständigen Differenz zu dem Erreichten - die entscheidende anthropologische Bestimmung (vgl. Bloch 1993, 21-44). Insofern ist die menschliche Ex-istenz als Mangel an etwas zu begreifen, das sich der Mensch stets vorstellt, begehrt, sucht, - weil es außerhalb seiner selbst ist. Dieser visionären Kraft der wünschenden Vorstellung entspringt die Hoffnung. Sie entzündet sich am Leiden an einer zu ertragenden, unvollkommenen Gegenwart, die es menschlicher zu gestalten gilt. Auch wenn die Lebenswirklichkeit des Menschen durch Mangel, Schmerz und Leid geprägt ist, erfährt er in der utopischen Kraft der Hoffnung ein positives Gegengewicht. Sie ist dann glaubhaft, wenn sie nicht blind hofft, sondern die krisenvolle Gegenwart - als nicht vollendete Vergangenheit und mögliche Zukunft - kritisch ins Auge faßt. Und dennoch hält das Prinzip Hoffnung - ohne das Leid ungeschehen machen zu können - den Glauben an das subjektive Glück des Menschen aufrecht. In dieser Polarität von Hoffnung und Leid ist folglich die anthropologische Befindlichkeit des fiktionalen Hörers vorzustellen.

Der Erwartungshorizont des fiktionalen Rezipienten gegenüber der musikalischen Gattung Passion erfährt vor diesem Hintergrund eine zweifache Ausprägung. Pragmatisch wie semantisch verliert die Gattung geistlicher Musik ihren religiösen Kontext. Für den nicht-christlichen Hörer spielt weder der ehemals liturgische Charakter noch die religiöse Semantik eine Rolle. Ungeachtet dieser pragmatisch- semantischen Entwurzelung bleibt die Passion für ihn Leidensgeschichte, Drama von Leben und Tod. Bloch spricht vom Tod als dem "härtesten Gegenschlag zur Utopie", er sei deshalb auch ïhr unvergeßbarer Erwecker"(Bloch 1993, 23). Ist er einerseits die stärkste Anfechtung der menschlichen Hoffnung, stellt er zugleich die Frage nach der menschlichen Bestimmung und fordert die Hoffnung als Lebensprinzip heraus. Insofern ist die Rezeption von Passionsmusik in die anthropologische Polarität von Leid und Hoffnung einzuordnen. Die Untersuchung des musikalischen Materials und seines Wirkungspotentials der Johannespassionen von Bach und Pärt werden mit diesen rezeptionsästhetischen Voraussetzungen konfrontiert.

3.1  Bachs Johannespassion

Zunächst wird nach Wirkungspotentialen im musikalischen Material von Bachs Passion gesucht, die für ihre Rezeption bedeutsam sein können. Der Problemkreis der Konkretisation reflektiert danach die Relation von Musik und Erwartungshorizont des Hörers, um zu einer Aussage über musikalische Bedeutung zu gelangen.

Bachs Johannespassion weist in ihrer musikalischen Struktur häufig gegensätzliche Materialstrukturen auf. Kontrast als musikalisches Gestaltungsmittel spielt eine wichtige Rolle, was in einem groß angelegten Werk des 18. Jahrhunderts nicht verwundern mag. Daß in der Musik des Barock Harmonik, Tempo, Rhythmik, Tonart und Tongeschlecht, Klangfarbe etc. wechseln können, ist selbstverständlich.


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