- 60 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (59)Nächste Seite (61) Letzte Seite (76)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

formuliert wird. Rezeptionsästhetisches Denken impliziert ferner, daß die Bedeutung heute eine andere sein kann als zu Lebzeiten des Komponisten. Heutige Rezeption nimmt das musikalische Material möglicherweise anders wahr, als gegebenenfalls vom Komponist intendiert. Welche Konsequenz hat dies schließlich für die Betrachtung der vorliegenden Kompositionen? Indem man von Autorfixierung und Materialsemantik zugunsten rezeptionsästhetischer Hermeneutik absieht, wird die Konkretisation im Horizont eines einzigen zeitgenössischen fiktionalen Rezipienten vergleichbar. In der Darstellung gegenwärtiger Rezeption finden die historisch weit auseinanderliegenden Werke eine gemeinsame ästhetische Ebene.

3  Rezeptionsästhetische Analyse der Johannespassionen von Bach und Pärt

Die methodische Konzeption sieht nun vor, Bachs und Pärts musikalisches Material zu untersuchen, dem Verstehenshintergrund eines fiktionalen Rezipienten gegenüberzustellen und daraus die Konkretisation abzuleiten. Zu klären ist zunächst, welches Profil der gedachte Hörer haben soll. Um Doppelungen in den jeweiligen Kapiteln zu Bach und Pärt zu vermeiden, werden die Überlegungen zum Rezipienten der Analyse vorangestellt.

Um den Verstehenshorizont jenes Hörers zu entwerfen, erscheinen mir drei Aspekte von besonderer Bedeutung: sein gesellschaftlicher sowie anthropologischer Hintergrund und sein Vorverständnis in der Begegnung mit der Gattung Passionsmusik. Es sei betont, daß hier weder eine vollständige Erfassung dieses Horizontes erreicht werden kann noch soll. Wie eingangs angedeutet, geht es u.a. darum, die Voraussetzungen von Deutung und Interpretation transparent zu machen. Und dies wird im folgenden an diesen drei Aspekten im Kontext von Material, Rezipient und Konkretisation gezeigt.

Zunächst wird der gesellschaftliche Kontext des Rezipienten in groben Zügen skizziert und damit Leo Löwenthals Forderung entsprochen. Der fiktionale Hörer ist als ein Mensch der westlichen kapitalistischen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts vorzustellen, der mit seiner säkularisierten, nicht-christlichen Weltsicht der zunehmenden religiösen Entzauberung entspricht.9 Die Gesellschaft, in der der fiktionale Hörer lebt und die ihn prägt, ist pluralistisch angelegt. Seine Lebenszusammenhänge sind für ihn entmythologisiert, da er sich kraft seiner Vernunft selbst als Schöpfer betrachtet (vgl. Marquard 1989, 13). Die Subjektivierung des Menschen hat auch ihren Preis. Indem er sich und seine Vernunft von den Erkenntnissen objektiver Wahrheiten lossagt, gibt er das Utopische der Vernunft zugunsten ihrer Nützlichkeit preis. Vernunft sucht nicht mehr objektiv zu erkennen, um daraus zu handeln.

"Vernünftig heißt dann, daß sie [die Ziele der Vernunft] dem Interesse des Subjekts, seiner vitalen und wirtschaftlichen Selbsterhaltung dienlich seien."(Horkheimer 1952, 6)
 


9 Dieses Hörerdesign ist die unmittelbare Konsequenz aus der Analyse von Bach- und Pärt"-hermeneutiken, vgl. Kautny 1999. Die theologische Interpretation ist hier bereits zur Norm verfestigt. Auch wenn ein religiöser Zugang mehr als berechtigt erscheint, soll gerade angesichts säkularer Tendenzen unserer Gesellschaft eine nicht-christliche Interpretation in die hermeneutische Diskussion eingebracht werden.

Erste Seite (1) Vorherige Seite (59)Nächste Seite (61) Letzte Seite (76)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 60 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik