- 59 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
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Rezipienten beantwortet werden kann, dessen theoretischer Grundlegung nun das Interesse gilt.

Der Rezeptionsästhetik geht es weniger um eine statistische Ermittlung von Leser- oder Hörerpsychologie (vgl. Rösing 1983). Wiewohl Rezeption ohne empi"-risch-psychologische Implikate undenkbar ist, geht es der ästhetischen Fragehinsicht hier eher um Aspekte von Interpretation und Verstehen, die es theoretisch reflexiv zu lösen gilt. Ihren Ausgangspunkt nahm das rezeptionsorientierte Paradigma in der Literaturgeschichte. Hans Robert Jauß zeigte an Dokumenten literarischer Rezeptionsgeschichte, wie menschliches Denken und Wahrnehmen von Kunst in verschiedenen Epochen und Kulturen einem ständigen Prozeß unterliegen (vgl. Jauß 1974 und 1992). Er konnte belegen, daß die sich wandelnde Interpretation zu einem guten Teil vom erfahrungsbezogenen Standpunkt des Betrachters abhängig ist. Dieses Phänomen menschlichen Vorwissens wird im Anschluß an den Soziologen Karl Mannheim als Erwartungshorizont bezeichnet. Damit ist einerseits das je individuelle Vorverständnis von Kunst gemeint (vgl. Jauß 1974, 176). Gleichermaßen sind die gesellschaftlichen Befindlichkeiten des Menschen und sein anthropologisches Verständnis in dieses Beziehungsnetz zu fassen, das schließlich die Vorbedingungen von Rezeption zeitigt. Als ein Protagonist rezeptionsästhetischer Vorgeschichte schreibt Leo Löwenthal 1934 dazu: "Wann und wie Menschen bestimmte Kunstwerke erleben [...], diese Probleme sind nicht zu verstehen, wenn man sie nicht aus dem Lebensprozeß der Gesellschaft [...] erklärt."(zit. n. Schöttker 1996, 549)

Für die Analyse von Bachs und Pärts Musik wird jedoch kein historisches Verfahren angestrebt, keine Dokumente der tatsächlichen Rezeptionsgeschichte gesammelt oder verglichen, sondern ein rezeptionsästhetischer Standpunkt in der Gegenwart eingenommen. Wenn Walter Benjamin von den Augen des Betrachters spricht, jenen Augen, die das Kunstwerk verändern (vgl. Adorno 1970, 288), dann sollen es im folgenden die Ohren des ausgehenden 20. Jahrhunderts sein, mit denen Bach und Pärt begegnet werden soll. Das mag auf den ersten Blick verwunderlich und widersprüchlich erscheinen, zumal, wenn weder die Geschichte und ihre Rezeptionszeugnisse noch psychologische Statistiken bemüht werden sollen!

Letztlich geht es aber um einen Rezipienten, der zeitgenössisch und dennoch nicht empirisch ist; Bach und Pärt sollen aus der Sicht eines Hörers betrachtet werden, der fiktional ist, ein konstruierter Rezipient, der in seiner Ausrichtung an gesellschaftlichen Tendenzen jedoch denkbar und plausibel erscheint. Mit anderen Worten: es handelt sich hierbei um ein rezeptionsästhetisches Modell von Bach- und Pärthermeneutik.

Die zentrale Kategorie für die Synthese aus materialer Wirkungsstruktur und interpretativer Leistung des Rezipienten nennt Jauß Konkretisation. Treffen Rezipient und Kunstwerk aufeinander, konkretisiert sich der Sinn von Kunst durch die Erfahrung von Wirkungspotentialen oder Sinnstrukturen des Materials im Rezipienten (vgl. Jauß 1992, 999). Dadurch, daß Material und Rezipient in einem geschichtlichen Prozeß stehen, wird der Sinn ebenfalls geschichtlich, das heißt veränderlich. Deshalb beruht der Ansatz einer rezeptionsästhetischen Deutung der Johannespassionen auf der Annahme, daß Sinn aus heutiger Sicht anders rezipiert werden kann, als er - insbesondere bei Bach, aber auch bei Pärt - traditionell


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