- 54 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
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Allerdings läßt Pärt immer wieder deutlich werden, daß dieses Denken seine Grenzen erkennt: Darauf verweist z.B. die Handhabung der Stille in Summa ebenso wie das auskomponierte Schweigen am Ende von Tabula rasa. In solchen Momenten wird deutlich, daß Musik für Pärt mehr ist als die Realisierung eines Schemas, zeigt sich, daß das Subjekt eben nicht in der Struktur aufgeht, transzendiert die Technik den Zweck, bloß ein Individuelles zu realisieren. Das Ästhetische, das dem Kalkül sich verdankt, weist hier zwar über sich hinaus auf das Denken zurück, aber als Ästhetisches zugleich auch über das Denken hinaus auf etwas anderes. Damit entsteht eine Anforderung an das Hören, deren Bewältigung Piaget Akkomodation nannte. Pärts Musik legt eine solche Veränderung des Bewußtseins nahe durch das, was an ihr eingängig ist, ohne im Eingängigen aufzugehen. Über das Ästhetische sucht sie den Menschen mit seinen Sinnen, Gedanken und Gefühlen auch auf ein Drittes zu richten, das jenseits empirischer Wahrnehmung liegt. Pärt nennt es Gott.

Auch mit dieser Wendung noch löst die gegenwärtige Musik Pärts einen alten kritischen Anspruch ein: Hatte Pärt vormals die Ursachen für Probleme in politischen Systemen gesehen und durch die Polarisierung von Bach und "modernere[n] Kompositionssysteme[n]"(Pärt in Wallrabenstein 1991, 32) dies zu dokumentieren versucht - "Mit der Collage-Serie habe ich wohl auch einen Ausweg aus der Irre unserer Zeit gesucht"(ebd.) - so bestimmt ihn heute die Einsicht, daß es "[...] Menschen sind, die diese Systeme hervorbringen."(ebd.) Und so dürften es gerade die Lücken im System der im Tintinnabuli-Stil komponierten Werke sein, die mit ihrem Widerstand gegen eine alles beherrschende Rationalität jede konzeptionelle Hybris in Frage stellen. Indem vielmehr Pärt durch die Musik des Tintinnabuli-Stils ein logozentrisches Weltbild problematisiert, ohne sich an ein emotional-sinnenhaftes zu verlieren, scheint er die Musik selbst einer pädagogischen Aufgabe zu widmen: der Aufgabe, nicht nur die Betätigung der Sinne und nicht nur die Arbeit des Geistes zu veranlassen, sondern beides im ästhetischen Vollzug zu einem des Menschen würdigen Handeln zusammenzuführen - und sich dadurch zugleich selbst als menschenwürdig zu erweisen. Erst ein Hören, das dieser doppelten Anforderung gerecht wird, dürfte ein adäquates genannt werden.

3  Die pädagogische Aufgabe

Was veranlaßt uns, das so beschriebene Hören als Aufgabe und nicht als vorhandenen Vollzug zu bezeichnen?

Musik wird in Kontexten gehört. Die eigenartige Wechselbeziehung zwischen Musik und Kontext nennen wir Musikkultur, und wir haben zu unterscheiden zwischen einer subjektiven und einer, die mehrere oder viele Menschen gemeinsam haben. Versteht man Musikkultur so, nämlich als jeweils spezifische Weise des Umgangs mit ästhetischen Objekten - und zugleich diese insofern, als sie sich durch diesen Umgang konstituieren bzw. ihn ermöglichen -, so ist zweifellos eine Differenz zwischen der Musikkultur Arvo Pärts und derjenigen der meisten anderen Menschen zu konstatieren. Selbst wenn man von der theologischen oder religiösen Letztbegründung absieht, erkennen wir Pärts Musik als eine Arbeit im musikalischen Material, bei der sich Hören und Denken, ästhetische und mathematische Rationalität in besonderer Weise verbinden. Die Analyse seiner Werke einerseits,


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