- 22 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
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Hörer zu interessieren.) Die jungen Komponisten sind ein Stück weiter, und sie haben den Schritt von der Sprache der Väter zum eigenen Stil teilweise im Rückgriff auf die Sprache der Großväter (Schönberg, Webern) getan, wie das auch im Westen oft geschah. Ihre jüngeren Arbeiten tendieren zunehmend zur Verdichtung und Komplizierung, zur Konzentration vielfältiger Formen und Mittel unter dem Ordnungsprinzip serieller Techniken. Hier wären vor allem Alfred Schnittke (Jahrgang 1934) und Edison Denissow (geb. 1929) zu nennen. Eine eigene Betrachtung verdienen die jungen Leningrader Komponisten. Musikgeschichtlich besteht seit jeher ein Spannungsverhältnis zwischen Moskau und der nördlichen Metropole. Moskau, bürgerlich-sentimental und kosmopolitisch geprägt, blickte traditionsgemäß nach Westen, orientierte sich am italienischen Belcanto und an der Romantik des Leipziger Konservatoriums; Petersburg, aristokratisch-national gesinnt, war schon im 19. Jahrhundert stolz auf die schöpferischen Möglichkeiten einheimischer Folklore - und geriet damit unversehens ins Experimentieren. Hier erwuchs die herbe, nationalrussische Tonsprache des Mächtigen Häufleins um Mussorgski, aber auch die von Strawinsky, Prokofjew und Schostakowitsch, in Moskau dagegen die europäischeren, weicheren Klänge Tschaikowskys, doch auch konsequente Neuerer wie Skrjabin oder Roslawetz behielten hier sentimental-romantische Züge. Auch heute behauptet dieser Unterschied - innerhalb des modernen dodekaphonisch-seriellen Satzes - gewisse Gültigkeit: Die Moskauer fanden leichter zum Vorbild Weberns, damit zu einer vorgegebenen Richtigkeit und formalen Abrundung, aber auch zu einem geschlossenen persönlichen Stil. Dagegen spürt man bei den Leningradern eher die Tendenz zum zuversichtlichen Beharren auf den eigenen Traditionen und zum formalen Experiment, auch wenn es nicht zur letzten Vollendung glückt: sie erscheinen hierin manchmal unfertiger und eklektischer, manchmal interessanter. Die wichtigsten Namen: Sergej Slonimski (geb. 1929) und Boris Tischtschenko (geb. 1941). Was Erfolgs- und Durchsetzungsaussichten dieser musikalischen Ansätze betrifft, so äußerten sich die Musiker, mit denen ich sprach, hierzu eher hoffnungsvoll als resigniert. Einmal findet ihre Musik beim Publikum Beachtung, in und außerhalb der Sowjetunion. Als aufmerksamer Mäzen erweist sich die Leningrader Philharmonie unter dem Dirigenten Roschdestwenski mit ihren Kammerensembles; hochbegabte Interpreten wie der Geiger Mark Lubotzki, der Pianist Alexej Ljubimow oder die Sängerin Lydia Dawydowa schaffen die technischen Voraussetzungen. Auch in Finnland, in den USA, auf den Festivals in Warschau und Zagreb gab es erfolgreiche Premieren. Schallplatten und Notendrucke erscheinen, etwas verzögert, was aber wohl mehr wirtschaftliche als kulturpolitische Ursachen hat.6 Die kulturpolitischen Widerstände sind nicht ausgestorben - bisweilen klingt erneut in diesem oder jenem Presseartikel die alte bösartige Tonart wider die musikalischen Experimente in Interessengemeinschaft mit dem Weltimperialismus auf, aber sie finden bei den jungen Komponisten nicht mehr die starke Beachtung wie einst. Es hieße fehlinterpretieren, wollte man die Sachlage heute noch auf den Nenner der etablierten Normen einerseits und der aufmuckenden Opposition andererseits bringen. Die musikalischen Neuerer versuchen sehr scharf zwischen Musik und Politik zu trennen und sähen sich höchst ungern in der Rolle von Opponenten (den Begriffen Opposition,


6 So konnte z.B. Andrej Wolkonskis Spiegelsuite, ein Zwölftonwerk, 1970 noch im Verlag Sowetski kompozitor erscheinen.

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