Arnold Schönberg und Anton Webern, Pierre Boulez
und Karlheinz Stockhausen oftmals geläufiger als Nikolaj Roslawetz,
Arthur Lourié, Jefim Golyschew oder Sergej Protopopow. Wenn heute
Alexej Lerner, Professor an der Moskauer Technischen Hochschule, im Komponistenklub
über Musik und Kybernetik spricht und mit Kompositionen eines
Computers den Beifall des Auditoriums erringt, so erscheint dies wie eine
- unbewußte? - Neuauflage von Versuchen mit musikalischer Aleatorik
(gelenkter Zufallskomposition), die Joseph Schillinger schon 1927 in Leningrad
unternahm - bevor er in die USA emigrierte, wo er sie fortsetzte und zu
einem System ausbaute. Auch im neugegründeten elektronischen Studio
am Moskauer Skrjabin-Museum wird der russischen Pioniere auf dem Gebiet
der elektroakustischen (L. S. Termen, der gleichfalls nach Amerika ging)
und graphischen Klangerzeugung (Arseni Awraamow) nicht mehr gedacht. Der
dort von Ewgeni Murzin konstruierte Musiksynthesator erlaubt auf graphisch-elektroakustischem
Wege - auf einer geschwärzten Glasplatte lassen sich Linien herauskratzen
und werden von Fotozellen in Frequenzen umgesetzt - die Unterteilung der
Oktave in 72 Stufen, damit die Herstellung beliebiger Tonsysteme, Tonreihen
und Klangfarben (auch hiermit hatte man sich schon 1924 beschäftigt).
Das Gerät soll durch eine Farblichtanlage ergänzt werden: die
Ideen Skrjabins, der - von Richard Wagner und Rudolf Steiner beeinflußt
- den Gedanken eines audiovisuellen Gesamtkunstwerkes entwickelte und Farblichtmusiken
schrieb, sollen hier verwirklicht werden. Daneben dient der Apparat Komponisten
als Experimentierfeld. Oftmals klingt es wie Ufafilm-Musik, die da entsteht,
doch gibt es ansprechende, weiterführende Versuche: Kompositionen
etwa von Alexander Nemtin etwa für Chor und elektronische Klänge.
Über dem Schaffen der Moskauer Avantgardisten steht als künstlerischer
Leitstern das Werk Anton Weberns, dessen Name jetzt ausschließlich
mit Hochachtung genannt wird. Seine Schriften werden für den sowjetischen
Staatsverlag übersetzt5,
neben Arbeiten von Stockhausen, Boulez, Pousseur und Adorno. Der Anstoß
zu dieser Entwicklung wird dem Komponisten Philipp Herschkowitz zugeschrieben,
einem Schüler Anton Weberns, der 1939 vor den Verfolgungen der Nazis
aus Wien emigrierte. Er lebt - ein eigensinniger Einzelgänger und
mit dem Komponistenverband überworfen - in ärmlichen Verhältnissen
in Moskau, im Kreise seiner Privatschüler, zu denen die bedeutendsten
jüngeren Komponisten zählen. Er pflegte sie vorzugsweise am Werke
Beethovens zu unterrichten - den Weg zu Webern haben sie sich dann selbst
gesucht und gebahnt. Ihr Weg begann zumeist beim Stil jener vitalistisch-linearen
Schule, wie sie die bekannteren Persönlichkeiten der sowjetischen
Musik - Schostakowitsch, Chatschaturjan - verkörpern (und damit langsam
in den Status ehrwürdiger Väter einrücken), einem
Stil, den man als Gegenbewegung zu den klanglich-sentimentalen Musiktraditionen
des 19. Jahrhunderts verstehen kann: in der Abkehr von Chromatik und Emotion,
in der Rückkehr zur Sachlichkeit vorklassischer Stilepochen,
zu Kontrapunkt und Diatonik, in der Wendung zu linearer Polytonalität
und rhythmusfreudiger Primitivität. (Für das Konzertpublikum
ist Barockmusik noch ein begeistert entdecktes Neuland: Das Moskauer Kammerorchester
unter Rudolf Barschai vermag mit einschlägigen Programmen vor allem
junge
5 Selbst war ich damals von Alfred Schnittke um die Besorgung der Originaltexte gebeten, die er übersetzen wollte. Tatsächlich sollte es doch noch bis 1984 dauern, bis die erste sowjetische Webern-Monographie aus der Feder von Juri Cholopow erscheinen konnte. |