den Jahrzehnten des Eingeengtseins ohne dauernden Schaden
hervorgegangen ist, ja, dass sie die Verbindung zur zeitgenössischen
Musik des übrigen Europa nie ganz verloren hat, im Gegenteil: zu ihr
haben sowjetische Komponisten - welche in der Unbefangenheit ihrer Mittel
und im Stand der Technik fast nichts mehr von ihren westlichen Kollegen
trennt - ihren interessanten Beitrag anzubieten. Der brave Nachbar,
als der der sowjetische Musiker etwa im Vergleich mit den polnischen Avantgardisten
der letzten Jahre erscheinen mußte, gehört der Vergangenheit
an. Allerdings gilt es klar zu sehen: nicht äußere Einflüsse
- wie sowjetische und auch westliche Stimmen mitunter behaupten - waren
es, die Zwölftonmusik und elektronische Klangerzeugung in Rußland
eingeführt haben: Russische Musiker begannen um 1914/15 bzw. um 1920
selbständig in dieser Richtung zu experimentieren und gaben westlichen
Strömungen oft den Anstoß, wie etwa der ukrainische Komponist
und Maler Jefim Golyschew mit seiner Zwölftonkomplex-Technik für
Herbert Eimert. Rußland verfügte aus der Zeit der Jahrhundertwende,
die einen beispiellosen Aufschwung des kulturellen und geistigen Lebens
brachte (man denke an Skrjabin, Strawinsky, Prokofjew, aber auch an Marc
Chagall, an die russischen Symbolisten und Akmeisten in der Dichtung, an
die Leistungen der russischen Geschichts- und Naturwissenschaft jener Zeit)
über starke Traditionen künstlerischen Avantgardistentums, und
noch die zwanziger Jahre waren voller schöpferischer Impulse dieser
Art. Nach 1930 bemühten sich die Führungsmächte, diese Tendenzen
zu
unterdrücken und die Erinnerung an diese Epoche durch Geschichtskorrekturen
zu tilgen. Polizeigewalt dürfte hierbei sogar etwas seltener im Spiel
gewesen sein, als westliche Darstellungen vermuten; dem Zweck genügte
meist ein Verfahren, wie es in Deutschland an Ernst Barlach, an Wolf Biermann
und Robert Havemann praktiziert wurde: Ausschluß der Unerwünschten
aus den Fachgremien - damit von der Möglichkeit zu publizieren - und
ein konsequentes Verschweigen ihrer Namen. Zu den Komponisten, die damals
zur Unperson degradiert wurden, gehörte kein Geringerer als
Nikolaj Roslawetz - Strawinsky nannte ihn einmal den interessantesten russischen
Musiker des 20. Jahrhunderts - der um 1913 unabhängig von Arnold Schönberg
oder Josef Matthias Hauer ein Tonsatzsystem von strenger Zwölftonlogik
entwickelte und in den zwanziger Jahren zu einer zentralen Figur der modernen
russischen Musik und Musikkritik wurde. Nach Stalins Tod wurden viele der
ehemals Unerwünschten rehabilitiert4,
soweit sie noch lebten und man sich ihrer erinnerte. Diese
Vergangenheit ließ sich freilich nicht mit einem Schlage bewältigen.
Noch heute setzt man mitunter dort neu an, wo nach 1930 Entwicklungen gewaltsam
zum Stillstand kamen; nicht nur auf kulturellem Gebiet (bis zum 50. Jahrestag
der Oktoberrevolution hat es etwa gedauert, bis unerwünschte Stücke
Majakowskis wie
Das Schwitzbad von Moskauer Bühnen wieder gespielt
wurden), sondern auch in einigen naturwissenschaftlichen Bereichen wie
der Genetik. Doch läßt sich Aufgeschlossenheit und selbst Vorurteilslosigkeit
feststellen: auch wer als Musikforscher aus der Bundesrepublik kommt, findet
offene Türen, hat Zugang zu dem verfügbaren Material und erlebt
eine geradezu herzliche Hilfsbereitschaft der sowjetischen Kollegen. Der
Zugang zu diesen Quellen ist nicht mehr versperrt, doch vielfach verschüttet:
das Paradox vom Propheten im eigenen Vaterland gilt: Den jungen sowjetischen
Musikern und Musikwissenschaftlern sind heute
4 Im Falle des genannten Roslawetz dauerte dies bis zur Perestrojka der 80er Jahre. |