- 19 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (18)Nächste Seite (20) Letzte Seite (76)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

ist der Grund, warum meine Entwicklung als Komponist offenbar anders verlief als die meiner Generationsgenossen hier im Westen. Zum Beispiel habe ich mich der Richtung des Neoklassizismus viele Jahre lang verschrieben - weil ich nichts anderes kannte. Ich habe Musik Schönbergs, glaube ich, zum ersten Mal 1954 oder 1955 gehört. Nach Stalins Tod gab es - man kann es nicht geradezu eine Liberalisierung nennen, aber es begannen doch gewisse Informationen nach Rußland zu kommen. In diesem Moment, als ich begann, all diese Dinge kennenzulernen, habe ich zur selben Zeit Schönberg, Berg, Webern und Stockhausen, Nono und Boulez kennengelernt. Es gab keine progressive Entwicklung - alles entdeckte ich zu gleicher Zeit, und es hatte für mich ein bißchen den Anschein, als wäre es ein und dieselbe Sache [...]. Das erste serielle Stück, das ich komponierte, hatte etwas von all diesen Einflüssen, weil die Stücke von Schönberg und die Stücke von Stockhausen allesamt für mich völlig neu waren."(Gojowy 1974)

Für seinen zwei Jahre jüngeren estnischen Kollegen Arvo Pärt, der 1963 das Konservatorium in Tallinn in der Kompositionsklasse von Heino Eller absolvieren sollte, waren es bei seiner Arbeit als Toningenieur am Estnischen Rundfunk in den Jahren 1958-67 die dort zu empfangenden Musiksendungen des Finnischen Rundfunks, die ihm solche Informationen vermittelten. Beide Komponisten sind in unmittelbarer Nachbarschaft porträtiert in dem Buch Neue Strömungen in der sowjetischen Musik (Nové proudy v sovetské hudbe)3 des tschechischen Komponisten und Musikwissenschaftlers Václav Kucera, das noch in der Hoffnungs- und Aufbruchsphase des Prager Frühlings auf Sommerreisen in die Sowjetunion entstand als ein erster, atemberaubender Versuch, eine künstlerische Hoffnungs- und Aufbruchsphase im großen slawischen Bruderland umfassend und mit Informationen zu dokumentieren, von denen sich im Westen noch niemand träumen ließ.

Der eine wie der andere Aufbruch, die eine wie die andere Hoffnung wurde nach 1968 unter den Panzerketten der in der CSSR intervenierenden Warschauer Pakt-Staaten auf bald zwei Jahrzehnte zunichte, ebenso wie die Aussichten dieses Buches, in einer westlichen Sprache publiziert zu werden - da waren dann die Entspannungsbemühungen westlicher Humanisten davor. Eine Hoffnungsphase war es gleichwohl und ohne jeden Zweifel, was sich da auch im großen Bruderland unter dem Stichwort Tauwetter in den 60er Jahren zunächst abgespielt hatte: die Hoffnung auf normaleres Leben in einem normaleren Staat. War nicht sogar ein Buch wie Aleksandr Solschenizyns Tag im Leben des Iwan Denisowitsch, der die Zwangsarbeitslager der Stalinzeit beschrieb, auf ausdrückliches Geheiß von Parteichef Chruschtschow 1963 in Moskau veröffentlicht und sogar in den verbündeten sozialistischen Ländern vertrieben worden? Es sei hier zurückgegriffen auf einen Zeitzeugen-Bericht des Verfassers von einem musikgeschichtlichen Forschungsaufenthalt in Moskau und Leningrad im Jahre 1967, der nach gebührender Wartezeit am 17. Januar 1970 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheinen konnte, und der hier auszugsweise zitiert sei:

"Das Verblüffende und Beglückende bei der Begegnung mit der Musik junger sowjetischer Komponisten ist [...] heute der Eindruck, dass die russische Musik aus


3 Die Widmung des Buches lautet: Mé schone se vzpomínkou na léta spoletschne proschitá v SSSR (Meiner Frau in Erinnerung an die gemeinsam verbrachten Sommer in der UdSSR) - es ist also Ergebnis längerer Forschungen.

Erste Seite (1) Vorherige Seite (18)Nächste Seite (20) Letzte Seite (76)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 19 -Kautny, Oliver (Hrsg.): Arvo Pärt - Rezeption und Wirkung seiner Musik