- 96 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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anderen Aktschlüssen Hoffmann sich im Gegensatz zur jeweiligen Welt befand, sein Liebesgefühl durch die Vorgänge in dieser Welt enttäuscht war, hat der Hoffmann des Giulietta-Aktes mit seiner Seele seine Liebesfähigkeit eingebüßt, die Liebe ist ihm abhanden gekommen. Insofern ist Felsensteins unterkühlte, fast schematische Darstellungsform in der Konzeption des Aktes begründet. Sie sind entseelte Kreaturen ohne menschliche Wärme. Ihre Handlungen sollen nicht teilnehmend nachvollzogen, sondern urteilend verfolgt werden. Die oben angesprochene Diskrepanz zwischen bewegter Musik und körperlicher Darstellung führt zu einer distanzierten Betrachtungsweise, nicht zu anteilnehmendem Erleben. Man könnte sagen, dass der im Olympia-Akt als Karikatur dargestellte Zynismus der Festgesellschaft, an der die Naivität des studiosus scheitert, im Giulietta-Akt verallgemeinert ist. Was die theatralische Existenzform in der Karikatur noch als exaltierte Ausnahme kennzeichnet, wird zur ›normalen‹ Triebkraft der Festgesellschaft im Giulietta-Akt. Durch die realere Darstellungsform erlangt der Zynismus der Gesellschaft dieses Aktes bedrückende Intensität.

Dem Zynismus dieser Welt hat Felsenstein in seiner Inszenierung eine Verkörperung gegeben: der missgestaltete, kleine, glatzköpfige Pitichinaccio, bei Felsenstein eine bösartige Narrenfigur am Hof Giuliettas. Charakterisiert zum einen durch seine Schlagfertigkeit im Dialog mit dem Dichter Hoffmann verleiht ihm aber seine Körperlichkeit und sein penetrantes, debil anmutendes, lautes und schrilles Lachen grausige Züge. Sie treten extrem am Aktschluss zutage. Das für Niklaus bestimmte Gift Dapertuttos gibt Pitichinaccio unwissentlich Giulietta. Als diese stirbt, glotzt Pitichinaccio erst verständnislos, dann sensationslüstern fasziniert und bricht schließlich unvermittelt in jenes Lachen aus. Die Brutalität des bloßen Zynismus ist in dieser Figur augenfällig materialisiert. Pitichinaccios deformierter Körper und sein enthemmtes und gemeines Lachen wird zum fratzenhaften Inbegriff der Gesellschaft, dessen Narr er ist.

Die Kälte dieser Vision mündet folgerichtig im V. Akt, dem Bild des völlig zerstörten Hoffmann in Luthers Keller. Der V. Akt beinhaltet auch in Felsensteins Fassung100

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Zur Spärlichkeit der Quellen für den V. Akt vgl. Didion, R.: A la recherche des Contes perdus. Zur Quellenproblematik von Offenbachs Oper in Brandstetter, S. 244ff.
nur wenig Musik. Neben ihrer Funktion, mit dem I. Akt einen Rahmen zu bilden – die ersten beiden von drei Nummern sind Strophen von Liedern aus dem I. Akt –, liegt ihre jeweilige Bedeutung auf der Hand: Die erste Musiknummer dieses Aktes besteht im Trinklied (Felsenstein, Nr. 37) aus dem ersten Akt, das er hier betrunken mit den zurückgebliebenen Freunden singt, nachdem einige von ihnen Luthers Keller verließen, weil Hoffmann drastisch der Liebe abschwor.

In der letzten Strophe des Liedes von Klein-Zack (Felsenstein, Nr. 39) rechnet Hoffmann mit Stella und Lindorf ab. Er singt sie mit »käuflicher Liebe« und »Geldsack« an, die beiden Angesprochenen verlassen nacheinander empört Luthers Keller.

Der Schlussarie Hoffmanns (Felsenstein, Nr. 38) geht der Monolog der Muse voraus, in die sich, nachdem Hoffmann sich von seiner Liebe zu Stella durch seine drei Frauenerzählungen emanzipiert hat, Niklaus zurück verwandelt. Der Monolog ist melodramatisch unterlegt mit Versatzstücken aus Hoffmanns Liebeslied des Antonia-Aktes.


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