- 95 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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reflektierende Erleben der Szenen durch den Zuschauer stört seine Anteilnahme an dem Liebesduett. Dieses Verhältnis von Musik und Szene resultiert aus der Handlung. Die intrigante Verführung Hoffmanns durch Giulietta in den beiden Duetten erklärt sich aus den Absichten Dapertuttos und Giuliettas. Den Duetten wiederum ist eben diese Handlung anzumerken. Gerade die Konventionalität des Liebesduetts ›en miniature‹ (Felsenstein, Nr. 32) und auch des Duettes am Aktschluss macht Sinn in der leb- und lieblosen Welt dieses Venedigs.

Auf diese Funktion des Konventionellen trifft man im Giulietta-Akt auffällig oft. Schon das Trinklied Hoffmanns (Felsenstein, Nr. 30) bleibt im Formalen einer Opernszene verhaftet. Es handelt sich nicht um eine Ariensituation Hoffmanns, in der er der Liebe abschwört und sich dem Sinnengenuss hingibt, so dass der Zuschauer mitfühlend Einblick in die seelischen Vorgänge Hoffmanns erhält, sondern um ein gesellschaftliches Ereignis: Der große Dichter Hoffmann singt ein Trinklied. Es macht uns mit Hoffmanns neuem Beschluss, für den Sinnengenuss zu leben, bekannt. Insbesondere die Unmittelbarkeit der Wirkung von Musik geht verloren, wenn sie als Bühnenmusik, also Teil der Bühnenhandlung, und nicht mehr als Sprache der Seele erklingt. Sie erhält mittelbare, durch Reflexion zu erschließende Funktion. Einer solchen Musiknummer haftet durch die Konvention des szenischen Aufbaus per se ein Moment des Bezeichnenden an. Felsenstein verstärkt dies dadurch, dass er Hoffmann ausgesprochen viele Gänge machen lässt und dass auch im Chor viele Aktionen auf der Bühne zu sehen sind. Die Beliebigkeit der Aktionen spiegelt die Oberflächlichkeit der inneren Welt Hoffmanns und der Festgesellschaft wider. Das, was hier dargestellt wird, kann schwerlich Anteilnahme beim Zuschauer auslösen. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade der Giulietta-Akt mit seiner überdurchschnittlich bewegten äußeren Handlung in dieser Hinsicht auffällt.

Die Kälte und Distanziertheit dieses Aktes erklärt sich aus seiner komplexen Dramaturgie. Sie selbst wirft ein Licht darauf, was der Akt zeigt. Während in den anderen Akten der Grundzug in einem starken Liebesgefühl, das enttäuscht wird, besteht, ist die Welt des Giulietta-Aktes gekennzeichnet durch Lieblosigkeit.99

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Dass Felsenstein in einem Kritik-Brief an den Darsteller des Hoffmann, Hans Nocker, feststellt, »daß die Liebe zu dieser Frau (Giulietta) [. . . ] größer, leidenschaftlicher und tiefer ist als die vorangegangenen Lieben«, widerspricht dem nicht. Zwar muss der Darsteller des Hoffmann ein Liebesgefühl darstellen, das so stark ist, dass Hoffmann seine Seele dafür hergibt, was aber die Handlung des Aktes zeigt, ist die Liebe in der Welt ›Venedigs‹, die nur den Besitz des anderen kennt. Die Handlung zeigt also gerade den Kontrast zur intensiven Liebe Joffmanns, der – je deutlicher die Tiefe der Hofmannschen Liebe wird – um so schärfer hervortritt.
An die Stelle von Liebe und Liebessehnen tritt unverblümtes Vorteilsstreben dem Anderen gegenüber, das ignorante Aneignen seiner Gefühle, eben die Welt des Teufels, der mit der Macht seines Diamanten regiert. So ist das Verhältnis Hoffmanns zu Giulietta wesentlich dadurch geprägt, dass Hoffmann diese Frau besitzen will. Dieses Interesse lässt Hoffmann blind werden, nicht zuletzt für die Intrigantin Giulietta. Bezeichnend für die weibliche Hauptfigur ist, dass sich ihr hauptsächliches Interesse auf Diamanten richtet. Neben dem materiellen Anreiz ist ihr Beweggrund für die Intrige Hass aus verletzter Eitelkeit. Auch die Destruktivität von Hoffmanns Gegenspieler geht weit über die seiner Vorgänger hinaus. In dieser Monsterwelt entseelter Kreaturen trifft Hoffmann auf Dapertutto und unterliegt. Während in den

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